Crossing Europe 2015: Startbasis für große Karrieren?

29. April 2015
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Die großen Sieger der heurigen Ausgabe des Linzer Filmfestivals Crossing Europe sind "Autoportretul unei fete cuminti" ("Self-Portrait of a Dutiful Daughter") der Rumänin Ana Lungu und "Varvari" ("Barbarians") des Serben Ivan Ikic, die sich den mit insgesamt 10.000 Euro dotierten Crossing Europe-Award teilen. Nicht nur diese Filme erzählten von einem Coming-of-Age, sondern das Festival selbst ist mit seiner 12. Auflage quasi ins Alter des Coming-of-Age gekommen und fördert mit seinem Fokus auf dem jungen europäischen Autorenfilm gewissermaßen auch das Coming-of-Age von Regisseuren.

Auf den jungen europäischen Autorenfilm fokussiert das von Christine Dollhofer geleitete Festival. Keine Seltenheit ist es inzwischen, dass Regisseure, die in Linz – wenn auch nicht als Weltpremiere – ihre ersten Filme präsentierten, in den folgenden Jahren den Sprung ins Festival von Cannes schafften.

Der Schwede Ruben Östlund gehört ebenso dazu wie die Italienerin Alice Rohrwacher, die vor ein paar Jahren mit ihren Debüts "De Ofrivlliga – Involuntary" bzw. "Corpo Celeste" in Linz entdeckt werden konnten und inzwischen mit "Turist – Höhere Gewalt" und "La meraviglia – Land der Wunder" Furore machten. Auch den Norweger Joachim Trier kann man dazu zählen, dessen erste beiden Filme "Reprise" und "Oslo, 31. August" im Wettbewerb von Crossing Europe liefen und dessen dritter Film "Louder than Bombs" nun in den Wettbewerb von Cannes eingeladen wurde oder auch Andrew Haigh, der seinen zweiten Film "Weekend" in Linz präsentierte und heuer mit seinem dritten Spielfilm "45 Years" bei der Berlinale begeisterte.

Gespannt sein darf man folglich, ob man auch den einen oder anderen Regisseur des heurigen Crossing Europe-Wettbewerbs in den nächsten Jahren im Line-up eines der großen Filmfestivals wiederfinden wird. Wie Crossing Europe so quasi das Coming-of-Age von Regisseuren fördert, so widmen sich auch die Regisseure selbst immer wieder dieser Umbruchphase im Leben eines Menschen.

Kraftvoll und mit großem Drive erzählt der Schweizer Simon Jacquemet in seinem Spielfilmdebüt "Chrieg" von einem Teenager, der den Sommer auf einer Alp in einem Erziehungscamp mit anderen revoltierenden Jugendlichen verbringen soll, mit diesen aber bald nachts zu Beutezügen und Vandalenakten in die Stadt fährt.

Jacquemet sucht weniger nach Ursachen und Erklärungen, sondern vermittelt vielmehr mit hautnah geführter, unruhiger Handkamera, die manchmal taumelt und stürzt und den Zuschauer unmittelbar ins Geschehen zieht, roh und intensiv die Wut und Aggression dieser Jugendlichen, die ein Ventil suchen, um sich abzureagieren.

Orientierungslos und ohne Zukunftsperspektiven ist auch der 17-jährige Luka in Ivan Ikics mit dem Crossing Europe-Award ausgezeichnetem Spielfilmdebüt "Varvari – Barbarians". Die Mutter kümmert sich nicht um den Teenager, das Mädchen, für das er schwärmt, zeigt ihm die kalte Schulter. Die Frustration enthält sich in Gewalt, die Luka mit seinen Kumpels bei Fußballspielen eines Provinzclubs und Demonstrationen gegen die Unabhängigkeit des Kosovo ausleben kann.

Wie Jacquemet geht es auch Ivic weniger um Reflexion und die Vermittlung tieferer Einsichten als vielmehr um die Zustandsschilderung einer machistischen Gesellschaft, die durch das natürliche Spiel der Laien und präzise Einbettung ins realistisch eingefangene Milieu Dichte gewinnt.

Das sexuelle Erwachen steht dagegen bei Anna Sofie Hartmanns "Limbo" und Stefan Butzmühlens "Lichtes Meer" im Mittelpunkt. Während Hartmann in ihrem in Dänemark spielenden spröd-fragmentarischen Film von einer Schülerin erzählt, die sich in ihre feministische Lehrerin verliebt, kontrastiert Butzmühlen romantische Seemannslieder mit dem dokumentarisch eingefangenen Alltag auf einem Frachtschiff und stellt dem Glauben des jungen Seemannes Marek an die große Liebe die Offenheit des Schiffsingenieur Jean für stets neue Affären gegenüber. So interessant beide Filme vom Ansatz her auch sind, so wenig werden die Themen letztlich ausgelotet.

Formal ungleich radikaler und konsequenter fokussiert die Rumänin Ana Lungu in dem zusammen mit "Varvari" mit dem Crossing Europe-Award ausgezeichneten "Autoportretul unei fete cuminti" ("Self-Portrait of a Dutiful Daughter") auf einer 30-Jährigen. In langen statischen Einstellungen, die vielfach einer Szene entsprechen und mit der Statik des Lebens der Protagonistin korrespondieren, und ohne Filmmusik zeichnet Lungu das Porträt einer Frau, die glaubt durch den Auszug der Eltern aus der Wohnung Freiheit und Glück zu finden, mit dieser neu gewonnenen Freiheit aber nichts anzufangen weiß, sodass sich zunehmend Frustration ausbreitet.

Von einem Ausbruch aus der bürgerlichen Gesellschaft und der Suche nach neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens erzählt dagegen Joanna Coates in ihrem visuell bestechenden "Hide and Seek". Die Britin schickt in ihrem Debüt vier Jugendliche in ein abgeschiedenes Landhaus, in dem sie offene Beziehungen abseits jeglicher Konventionen ausprobieren und auch das Glück, das durch die Ankunft eines Außenstehenden vorübergehend bedroht scheint, zu finden scheinen.

Im Gegensatz zu diesem utopischen Film fokussierten die Beiträge aus Georgien und Bulgarien auf Frauen, die Verschuldung in eine zunehmende Notlage treibt. Steht bei der Georgierin Salomé Alexis "Kreditis Limiti – Line of Credit" der Exekutor erst am Ende vor der Tür, so beginnt "Urok – The Lesson" von Kristina Grozeva und Petar Valchanov damit.

Während Alexis in langen statischen Einstellungen mitleidlos und bissig auf die 40-jährige Protagonistin blickt, die, geprägt von der Sozialisation in einer behüteten und begüterten Kindheit während des Kommunismus, unfähig ist mit Geld umzugehen und ihren Untergang damit selbst verschuldet, entwickeln Grozeva/Valchanov aus dem Versuch der Englischlehrerin ihre Schulden zu tilgen ein packendes geradliniges Drama mit Thrillerelementen und zeigen, wie die eigenen moralischen Ansprüche an der Notlage zunehmend zerbrechen.

Einen starken Eindruck hinterließ auch "Tussen 10 en 12 – Between 10 and 12", in dem der Holländer Peter Hoogendoorn zeigt, wie für eine Familie durch die Nachricht vom Unfalltod der Tochter die Welt von einer Sekunde auf die andere zerbricht.

Das Konzept ist simpel, denn Hoogendoorn beschränkt sich darauf jeweils den Alltag des Bruders, der im Teenageralter steht, des Vaters und der Mutter bei der Arbeit zu zeigen und konfrontiert diese drei Familienmitglieder dann jeweils mit der von zwei Polizisten überbrachten Nachricht.

Ganz im Alltäglichen verankert, unspektakulär und unaufgeregt ist das inszeniert, lässt in langen statischen Einstellungen dem Alltag und den Figuren viel Raum, um dann die Erschütterung durch das Unfassbare zu vermitteln, zeigt aber gleichzeitig auch, dass das Leben um diese Familie herum ganz normal weiter geht.

Die Stärke von Crossing Europe liegt aber nicht nur im heuer zwölf Filme umfassenden Wettbewerb, sondern im Gesamtkonzept der sechstägigen Veranstaltung. Denn neben der Plattform für Newcomer bietet das Festival mit der Sparte "Panorama" auch Einblick in neue Werke großer europäischer Autorenfilmer, die vermutlich nicht den Weg in die Kinos schaffen werden, präsentiert spannendes Genrekino mit neuen europäischen Horrorfilmen in der "Nachtsicht", ermöglicht in "Local Artists" einheimischen Filmemachern ihre Werke der Öffentlichkeit vorzustellen und beweist - "Nachtsicht" einmal abgesehen - in allen Sparten ein starkes gesellschaftliches Engagement.

Trotz der Vielfalt der Programmschienen ist jeder Film überlegt gewählt - handverlesen eben. Hier gibt es keine Notlösungen und keine Kompromisse: Ein Festival mit klarem Profil, das von Jahr zu Jahr an Bedeutung und Renommee gewinnt.