Crossing Europe 2014: Persönliches, eigenwilliges und aufregendes Kino

1. Mai 2014
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"Family Tour" und "Les Apaches" heißen die großen Sieger des elften Linzer Filmfestivals Crossing Europe. Ex aequo vergab die internationale Jury den mit insgesamt 10.000 Euro dotierten Crossing Europe Award an diese beiden Filme, leer ging bei der Preisverleihung leider "Violet" aus, in dem der Belgier Bas Devos filmisch aufregend und verstörend von der Traumatisierung eines Jugendlichen erzählt.

Statt auf Spektakel setzt das Crossing Europe Filmfestival weiterhin auf kleine Filme, die nah an den Menschen sind und vielfach auch eine eigene filmische Sprache für ihre Geschichten suchen. Ungewöhnlich ist schon die Ausgangssituation des ersten Spielfilms von Liliana Torres, denn die Spanierin hat die meisten Rollen von "Family Tour" mit eigenen Familienmitgliedern besetzt. Nur die Hauptrolle, das Alter Ego der Regisseurin, spielt mit Nuria Gago eine professionelle Schauspielerin, die freilich mit ihrem Filmnamen Lili und dem Beruf einer Filmemacherin wieder auf die Regisseurin verweist.

Diese Lili kehrt nach jahrelangem Aufenthalt in Mexiko für einen mehrwöchigen Urlaub zu ihrer Familie nach Spanien zurück. Ankunft und Abreise bilden die Klammer des Films, dazwischen begleitet Torres Lili mit der Kamera beim Alltag mit ihrem Vater, der dominanten Mutter und ihrer Schwester, beim Besuch von Großeltern, Tanten und Cousinen, bei einem Treffen mit einer Freundin.

Nichts Aufregendes passiert im Grunde, doch in der Mischung von Autobiographischem und Inszenierung und im genauen Blick für Details und Verhaltensweisen verdichtet sich "Family Tour" nicht nur zu einem Familienbild, das verstehen lässt, wieso die Protagonistin möglichst rasch wieder abreisen will, sondern auch zum Porträt einer in Lethargie erstarrten spanischen Arbeiterschicht, die auch mit ökonomischen Problemen zu kämpfen hat.

Ungleich dramatischer ist Thierry de Perettis Spielfilmdebüt "Les Apaches". Von einem wahren Ereignis inspiriert, erzählt der 44-jährige Korse von der Orientierungslosigkeit arabischstämmiger Jugendlicher auf Korsika.

Als Aziz mit seinen Freunden in einer Luxusvilla, die sein Vater in Abwesenheit des französischen Besitzers betreut, heimlich eine Party feiert und die Gruppe dabei auch einige Gegenstände, darunter ein wertvolles Gewehr stiehlt, werden sie bald von den Handlangern des Eigentümers gejagt. Aziz gibt das Diebesgut mit Ausnahme des Gewehrs zwar schnell zurück, doch nun fürchten seine Freunde, dass er sie verraten könnte.

Dicht beginnt dieses Drama, deckt präzise das soziale Gefälle zwischen französischer Oberschicht und arabischstämmigen Dienern aus, vermittelt auch im fast quadratischen 4:3 Format die Einengung und Perspektivelosigkeit der Jugendlichen, doch der Handlungsentwicklung fehlt es an Stringenz und Plausibilität.

Der aufregendste Film des Wettbewerbs kam aus Belgien. Bas Devos erzählt in seinem schon bei der Berlinale mit dem Hauptpreis in der Schiene "Generation 14plus" ausgezeichneten "Violet" von der Traumatisierung des Teenagers Jesse, der miterleben musste, wie sein Freund vor seinen Augen in einer nächtlichen Einkaufspassage erstochen wurde.

Die Sprachlosigkeit und die Trauer, aber auch Schuldgefühle, die dieses Ereignis auslösen, versucht Devos nicht zu erklären, sondern vielmehr in einer bruchstückhaften Erzählweise, die ebenso wie die jugendlichen Protagonisten an Gus Van Sants "Elephant" und "Paranoid Park" erinnert, erfahrbar zu machen.

Wie bei "Les Apaches" erzeugt auch hier schon das 4:3-Format ein Gefühl von Beklemmung. Der Alltag mit Familienleben, BMX-Touren mit seinen Freunden oder dem Besuch eines Konzerts der Black-Metal Band Deafhaven, die den titelgebenden Song "Violet" spielt, scheint zwar ganz normal weiterzugehen, doch die virtuose Arbeit mit Bild und Ton sowie der weitgehende Verzicht auf Dialog evozieren eindrücklich ein Gefühl der Verunsicherung und tiefen Verstörung und kehren die innere Befindlichkeit und Sprachlosigkeit des Protagonisten nach außen.

Keine kontinuierliche Handlung wird entwickelt, sondern monolithisch einzelne Szenen aneinandergereiht. Lange statische Großaufnahmen wechseln mit Detailaufnahmen, die gerade durch ihre Reduktion Prägnanz und Eindringlichkeit gewinnen, und gleitenden Kamerafahrten durch die gepflegten Vorstadtstraßen. Immer wieder wird mit Schärfe und Unschärfe gespielt, mal wird der Ton zurückgenommen, dann schwillt er wieder an und dazwischen eingeschnitten werden Computerbilder, die durch ihre Unschärfe kaum zu identifizieren sind, eine Atomkatastrophe ebenso wie einen Tornado andeuten könnten.

Mag Jesse auch mit seiner Mutter lachend eine TV-Sendung konsumieren, man spürt hier stets, dass dieses Lachen nur ein Verdrängungsmechanismus ist und dass dahinter Unbewältigtes schlummert, das Trauma schleichend weiterarbeitet und bei der kleinsten Erinnerung wieder hervorbrechen kann.

Nachhaltig brennt sich dieser Film ins Gedächtnis ein und schön wäre es, wenn er und einige weitere filmische Perlen, die es in Linz auch heuer wieder zu entdecken gab, einen Verleih und somit den Weg ins Kino fänden.