Crossing Europe 2009: Vielfältiger Wettbewerb, spannende Nebenreihen

27. April 2009
Bildteil

Auch in seiner sechsten Auflage überzeugte das Crossing Europe Filmfestival Linz. Gerade die klare Fokussierung auf den "Jungen europäischen Autorenfilm" machte deutlich, wie vielfältig Kino sein kann und welche Möglichkeiten es bietet. – Zum Gewinner des mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreises wurde dabei der türkische Film "Uzak Ihtimal / Wrong Rosary" gekürt.

Was schon zur letzten Ausgabe an dieser Stelle festgehalten wurde, gilt auch für heuer: Handverlesen war das 177 Filme umfassende Programm wiederum. Freilich erfreute nicht jeder Film in gleichem Maße, doch jedem der gesehenen Filme, sah man an, dass er mit Bedacht ausgewählt wurde.

Keinen Kompromiss an den Kommerz gab es im Wettbewerb, keinen glatten Mainstream, sondern durchwegs Filme, in denen die Regisseure voll Interesse und mit Empathie auf die Figuren blicken. Dies dürfte auch für den Siegerfilm "Uzak Ihtimal / Wrong Rosary", in dem Mahmut Fazil Coskun von der Liebe eines Istanbuler Imams zu einer Katholikin erzählt, gelten, kann aber mangels eigener Kenntnis dieses Films letztlich nicht beurteilt werden.

Ganz in die Psyche und das Denken von Frauen führten der Genfer Vincent Pluss in seinem Porträt der psychisch labilen Laura (eindringlich: Céline Bolomay) "Du bruit dans la tête" und die Niederländerin Esther Rots mit "Can Go Through Skin". Rots erzählt in ihrem ersten Spielfilm von der etwa 30jährigen Marieke, die nach einem brutalen Überfall in ihrer Stadtwohnung aufs Land zieht um Ruhe und inneres Gleichgewicht zu finden. Doch die Erinnerungen holen sie immer wieder ein, Panikattacken brechen über sie herein, höchst schwankend ist ihr Verhalten, mal ist sie nett zum Nachbarn, dann wieder abweisend. Der desolate Zustand des Landhauses wird dabei zum Spiegelbild ihrer inneren Befindlichkeit und mit einem elaborierten Sounddesign, mit plötzlich hereinbrechenden Alpträumen und Rachefantasien und der Fokussierung ganz auf die von Rifka Lodeizen intensiv gespielte Protagonistin lässt Rots den Zuschauer die Welt aus Mariekes psychischem Zustand heraus wahrnehmen.

Leichtere Kost war da schon Anna Novions Coming-of-Age-Drama "Les grandes personnes". Überzeichnet ist zwar der von Jean-Pierre Darroussin gespielte Vater und deplatziert die mit ihm verbundenen komischen Szenen, doch Novions Blick auf die 17-jährige Tochter Jeanne, die sich auf einem Urlaub in Schweden zunehmend von der väterlichen Obhut befreit und Kontakte zum anderen Geschlecht knüpft, überzeugt ebenso wie die bestechend eingefangene sommerliche Atmosphäre Südschwedens, die sehr schön mit dem inneren Zustand, einem sanften Schweben zwischen Kindheit und heranbrechenden Erwachsenenalter, Jeannes korrespondiert.

Ähnlich wie Novions Film lebt auch "Unmade Beds" des Argentiniers Alexis Dos Santos ganz von der Atmosphäre, die in diesem Fall zu einem beträchtlichen Teil durch den exzellenten Soundtrack erzeugt wird. Im gelassen-verspielten, fast traumhaften Erzählrhythmus trifft Dos Santos genau die sanft-melancholische Verlorenheit und sehnsüchtige Suche nach Bindung und Geborgenheit, die den jungen Spanier Axl auf der Suche nach seinem Vater und die unter Liebeskummer leidende Französin Vera durch die Clubs von London streifen lässt. Bis sich Axl und Vera freilich wirklich finden, ist es ein weiter Weg.

Den formal radikalsten Film im Wettbewerb legte der Schwede Ruben Östlund mit "Involuntary" vor. In langen statischen Einstellungen setzt er sich in sechs ineinander geschnittenen, aber inhaltlich voneinander unabhängigen Episoden mit dem Thema Gruppenzwang auseinander. Wozu kann eine Gruppe ein Individuum treiben, wie weit lassen sich Menschen aufstacheln und wie kann aus einer harmlosen Blödelei eine gefährliche Situation werden, zeigt Östlund mit einem kühlen, an die Filme Michael Hanekes erinnernden Blick. Formal mit großer Konsequenz inszeniert, bleibt der Zuschauer freilich in der distanzierten Beobachterposition, die ihm jeden emotionalen Zugang verwehrt und den Film letztlich zu einem kalten wissenschaftlichen Experiment macht, das zwar den Kopf, aber nie das Herz anregen kann.

Wie man sich auch im Thriller- und Horrorkino mit einem Thema wie Gruppenzwang auseinandersetzen kann zeigte James Watkins "Eden Lake", der in der Reihe "Nachtsicht" lief. Sukzessive lässt Watkins darin den Wochenendurlaub eines jungen Paars an einen abgeschiedenen paradiesischen See in einen Alptraum kippen, denn zunehmend werden sie von einer Gruppe Jugendlicher terrorisiert. Was einer allein kaum machen würde, das führt man unter dem Druck des Anführers und den fordernden Augen der Kollegen aus. Doch Watkins zeigt auch, dass diese Gewaltbereitschaft nicht aus dem Nichts kommt, sondern in frustrierten und aggressiven Elternhäusern förmlich gezüchtet wurde. – Ein böser Blick auf die britische Provinz und aber auch ein Film darüber, welche Kräfte ein Mensch unter existentieller Bedrohung entwickeln und wie selbst die sanfteste Kindergärtnerin, wenn es ums eigene Überleben geht, zum Tier werden kann.

So bietet nicht nur "Eden Lake", sondern die gesamte "Horrorreihe" des Festivals eine Abwechslung und einen Gegenpol zum restlichen Programm, und möchte sie so wenig missen wie die diversen Tributes, den Länderschwerpunkt oder die Schiene "Arbeitswelten". – Der Mix aus Konzentration auf Europa mit einer Zusammenschau von Filmen, die zwar in Linz kaum einmal ihre Welturaufführung erleben, aber wohl sonst nirgends in diesem Kontext zu sehen sind, bei gleichzeitiger großer Bandbreite ist ein Konzept, das Crossing Europe zum gegenwärtig vielleicht interessantesten Filmfestival Österreichs macht