Crossing Europe 2009 - Schwierige Kindheit am Rand der Gesellschaft

24. April 2009
Bildteil

Ein Zirkus, eine Kneipe, im Wald lebende Obdachlose – Gemeinsam ist den Filmen "Calimucho", "Stella" und "Versailles", die beim heurigen Crossing Europe Filmfestival Linz zu sehen sind, nicht nur, dass sie den Blick auf die Ränder der Gesellschaft richten, sondern auch, dass Kinder darin eine wichtige Rolle spielen.

Die Musiker des kleinen Familienzirkus kommentieren im niederländischen Wettbewerbsbeitrag "Calimucho" mal das Geschehen, mal fassen sie auch in der Vergangenheit liegende Ereignisse zusammen. Indem diese musikalischen Einschübe das filmische Erzählen bewusst machen, schaffen sie Distanz. Hautnah ist dagegen die Kamera immer wieder an den Figuren, erfasst sie oft nur in extremen Großaufnahmen, die jeden Überblick verweigern, aber ebenso wie der Einsatz der verwackelten Handkamera Unmittelbarkeit und Direktheit erzeugen. So interessant der formale Ansatz aber auch ist, so scheitert Eugenie Jansens zweiter Spielfilm dann doch an seiner Unentschiedenheit. Denn einerseits bleibt der dokumentarische Blick auf den Alltag des multikulturellen und vielsprachigen Mikrokosmos eines Kleinzirkus zu wenig insistierend und damit an der Oberfläche, andererseits wird die melodramatische Geschichte um die labile Beziehung zwischen zwei Artisten und die Belastungen, die diese Konflikte für den etwa fünfjährigen Sohn bedeuten, viel zu ziellos und beliebig entwickelt, um den Zuschauer zu packen.

Weiter ins gesellschaftliche Abseits führt Pierre Schoeller in seinem Spielfilmdebüt "Versailles". Der Franzose erzählt darin von einer Obdachlosen, die ihren Sohn einem in einer selbst gebauten Hütte im Wald bei Versailles – eine Million Menschen soll in Frankreich in Notunterkünften, Hütten oder auf der Straße leben - überlässt. Mann und Kind kommen sich langsam näher und schließlich kehrt der Mann in seine Familie zurück, der Junge wird in die Gesellschaft integriert und kann Jahre später auch seine resozialisierte Mutter wieder in die Arme schließen. – Allzu aufdringlich spielt Schoeller nicht nur mit dem Gegensatz von Schloss Versailles und Obdachlosigkeit, sondern platt geraten ist auch die Gegenüberstellung von wohlgeordnetem gesellschaftlichem Leben mit Zwängen und einem selbstbestimmten, freien, aber auch von Härten gekennzeichneten Leben. Das brachte die Fabel „Wolf und Hund“ schon knapper und prägnanter auf den Punkt und die Kindergeschichte macht Schoellers Film dann ganz zum Rührstück, das allerdings durch seinen belehrenden Ansatz kaum Rührung auslöst.

Wie freilich der Junge Enzo beim Einschlafen die Hand der Mutter und danach die Damiens halten will, so will am Ende von "Stella" auch die elfjährige Titelfigur die Hand ihrer Freundin Gladys halten. Gemeinsam ist "Versailles" und "Stella" auch, dass in beiden Filmen der im Oktober 2008 verstorbene Guillaume Depardieu nochmals zu sehen ist, einmal in der Hauptrolle als Obdachloser, in "Stella" als Kleinkrimineller. Zwei Welten treffen in diesem autobiographisch beeinflussten fünften Spielfilm der Französin Sylvie Verheyde aufeinander: Da ist einerseits das derbe, von Alkohol, Kartenspiel, Musik und Rauchen geprägte Milieu der Kneipe, die Stellas Eltern betreiben, andererseits die gutbürgerliche Welt eines Gymnasiums, das das elfjährige Mädchen besuchen soll. Während die Mitschülerinnen Klavier- und Tanzstunden nehmen oder aufs Ferienlager fahren, kennt sich Stella nur mit Cocktails, Flippern und - zumindest in der Theorie - mit Sex aus. Mit Voice-over der Protagonistin versetzt Verheyde den Zuschauer ebenso wie mit Traum- und Alptraumbildern sowie einer Handkamera, die Stella immer nah folgt, und Kamerabewegungen, die die Emotionen direkt und intensiv vermitteln, geschickt in die Perspektive Stellas und bietet so eindrücklich eine Innensicht ihrer schwierigen Kindheit. Während die Eltern glauben, dass das Gymnasium für ihre Tochter eine Chance sei, glaubt sie selber nicht daran, verweigert sich zunächst der Schule, findet kaum Anschluss, lernt dann aber doch an sich selbst zu glauben und in diesem Weg eine Chance für sich zu sehen. Dass "Stella" trotzdem nicht in ein einfaches Happy End mündet, sondern mit der Hoffnung, dass viel möglich ist, aber auch ein Scheitern nicht ausschließt, endet, gehört ebenso zu den kleinen Wundern dieses Films wie die gleichermaßen differenzierte wie einfühlsame Schilderung der Situation und der kindlichen Psyche und natürlich die eindrückliche Leistung der in jeder Szene präsenten jungen Hauptdarstellerin Leora Barbara.