Crossing Europe 2008: Ausbrüche aus der Tristesse

25. April 2008
Bildteil

Das Meer, am Himmel ziehende Vögel, Flugzeuge und ihre Kondensstreifen – Bilder, die in Isild Le Bescos Coming-Of-Age Drama "Charly" ebenso wie im lettischen Episodenfilm "Vogelfrei" und im serbischen Drama "Love and Other Crimes" auf die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus tristen Verhältnissen hinweisen. - Viel zu lachen gibt es beim heurigen Programm des Linzer Filmfestivals Crossing Europe nicht.

Nah am alltäglichen Leben der Menschen in den unterschiedlichsten Regionen Europas sind viele der gezeigten Filme. Um das Öffentliche, die Politik und die Gesellschaft im Allgemeinen, geht es dabei nur selten, im Mittelpunkt stehen vielmehr die privaten Probleme der Protagonisten. Da ist beispielsweise der 14jährige Nicolas, der bei seinen Großeltern lebt. Emotionale Bindung gibt es kaum und auch in der Schule ist Nicolas ein Außenseiter. Ohne Musik folgt die Kamera in "Charly" der Französin Isild Le Besco, die zuletzt auch als Schauspielerin in Jeanne Waltz´ "Pas douce" brillierte, geduldig den Wegen des apathischen, von Kolia Litscher eindringlich gespielten Jugendlichen, verharrt lange auf seinem Gesicht oder zeigt ihn ausführlich bei alltäglichen Verrichtungen. Intensiv vermittelt die Genauigkeit des Blicks und die Wortlosigkeit die beengende Atmosphäre.

Dies ändert sich als Nicolas ein Exemplar von Wedekinds "Frühlingserwachen" und eine Postkarte von einem paradiesischen Meeresstrand findet. Nachts verlässt er heimlich das Haus der Großeltern, macht sich per Autostopp auf den Weg und landet bald im Wohnwagen der nur wenig älteren Gelegenheitsprostituierten Charly. Langsam wird die anfängliche Beklemmung einer gewissen Vertrautheit weichen, werden sie gemeinsam "Frühlingserwachen" lesen und Nicolas wird schließlich allein zum Meer aufbrechen. – Verbraucht mag dieser Traum und dieses Bild sein, doch in der absolut unspektakulären, lakonischen und leisen Erzählweise haftet ihm nichts Kitschiges an, sondern wirkt es authentisch.

Auf Musik aus dem Off verzichten auch die lettischen Regisseure Janis Kalejs, Gatis Smits, Janis Putnins und Anna Viduleja, von denen jeder von ihnen eine der vier Episoden von "Vogelfrei" gedreht hat. Verbindungsglied der Episoden ist der Protagonist Theodor, der jeweils in einem Lebensabschnitt von Kindheit über Jugend, Erwachsenenalter bis zum Alter geschildert wird. Weist schon der Titel, zu dem am Beginn vier Erklärungen aus dem Duden geliefert werden, auf eine Sehnsucht nach Freiheit hin, so wird dies speziell im letzten Abschnitt mit dem Freilassen eines Falken noch verstärkt.

Glücklich ist der Protagonist hier nur in der Kindheit und eben im reifen Alter, während Jugend und Erwachsenenalter als Perioden der Einsamkeit und Beziehungsunfähigkeit geschildert werden. Banal ist dies in der Aussage zwar, wird aber durch eine forcierte Licht- und Farbdramaturgie, sowie die Wahl und Ausstattung der Schauplätze schon mehr penetrant als überzeugend vermittelt, wenn dem lichtdurchfluteten Wald (Kindheit und Alter) das kalte Weiß und Blau eines Eishockeystadions (Jugend) und eine sterile Designerwohnung und ein ebensolches Büro (Erwachsenenalter) gegenübergestellt werden.

Den Blick auf die am Himmel ziehenden Vögel gibt es auch immer wieder in Stefan Arsenijevics "Love and Other Crimes" - und am Ende auch noch ein Flugzeug. Materiell geht es Anica, ihrem Freund Milutin, der von Kleinhändlern und Imbissbuden Schutzgelder kassiert, ihrer 14jährigen Tochter Ivana und Milutins rechter Hand Stanislav zwar nicht schlecht, glücklich sind sie aber nicht. Tristesse vermittelt die heruntergekommene Belgrader Plattenbausiedlung ebenso wie das winterliche Klima mit Schneefall und die Musik lässt melancholische Stimmung aufkommen.

Während Ivana droht mit einem Selbstmord ganz aus dem Leben auszusteigen, plant Anica in Deutschland neu zu beginnen, weiß aber letztlich doch nicht, ob sie wirklich weg will. – Konzentriert auf einen Tag und unterstützt von einem exzellenten Darstellerensemble erzählt Arsenijevic zwar konventionell, aber voll Mitgefühl mit den Figuren und mit einem Gespür für starke Kinobilder und emotionale Momente, sodass diese Geschichte vom ewigen, aber auch vergeblichen Streben nach Glück bewegt und über das Filmende hinaus in Erinnerung bleibt.