"Cinema italiano" in den Schweizer Kinos

12. Oktober 2009 Walter Gasperi
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Cinelibre bringt in Zusammenarbeit mit dem Verein Made in Italy gegenwärtig fünf neue, im deutschsprachigen Raum aber weitgehend unbekannte italienische Filme in die Deutschschweizer Kinos und Filmclubs. Entdecken kann man so unterschiedliche Werke wie Giorgio Dirittis eindringlichen "Il vento fa il suo giro" oder Paolo Sorrentinos vor Einfallsreichtum sprühende Groteske "L´amico di famiglia".

Die glorreichen Zeiten des italienischen Kinos sind längst vorüber. Katapultierten nach dem Zweiten Weltkrieg Regisseure wie Visconti, Rossellini und De Sica den italienischen Film mit dem Neorealismus an die Spitze des Weltkinos und kamen in den 50er Jahren mit Fellini und Antonioni weitere Meisterregisseure dazu, so hat es auf der Apenninenhalbinsel seit den frühen 60er Jahren, seit Pasolini, Bertolucci, Rosi, die Tavianis und Ermanno Olmi ihre ersten Filme drehten keine echte Erneuerungswelle mehr gegeben.

Nicht zuletzt aufgrund der großen Zahl privater TV-Stationen gingen die Kinobesucherzahlen seit Anfang der 80er Jahre dramatisch zurück und der Staat zeigte wenig Engagement im Bereich der Filmförderung. Einzelne isolierte Talente konnten in den letzten 30 Jahren immer wieder entdeckt werden, aber ausgenommen von Nanni Moretti konnte kaum einer zu einer kontinuierlichen Regiekarriere auf hohem Niveau ansetzen. Nichts Vergleichbares konnten - zumindest bislang - Gianni Amelio seinem "Il ladro di bambini" (1992), Roberto Benigni "La vita è bella" (1998) oder Giuseppe Tornatore seinem "Cinema Paradiso" (1989) folgen lassen.

Und Ähnliches lässt sich auch über die letzten Jahre sagen. Da gelang Marco Tullio Giordana mit "I cento passi" (2000) zwar ein starker Mafiafilm und mit seinem sechsstündigen - bezeichnenderweise als Mini-TV-Serie konzipierten – "La meglio goventù" (2005) eine mitreißende, virtuos Privates und Zeitgeschiche verknüpfende Familienchronik, doch Giordanas folgende zwei Filme bleiben weitgehend unbeachtet. Und Vincenzo Marra ließ auf seinen packenden Arbeitslosenfilm "Vento di terra" (2004) ebenso einen Festivalflop folgen wie Saverio Costanzo auf seinen Locarno-Sieger "Private" (2004). Zu hoffen ist, dass sich die Laufbahn der mit "Gomorra" und "Il divo" so erfolgreichen Regisseure Matteo Garrone und Paolo Sorrentino anders entwickelt.

Denn ganz offensichtlich fehlt es dem italienischen Kino nicht an Talenten, wohl aber an Kontinuität. Wie vielfältig diese Kinematographie ist, zeigt auch die Reihe von fünf Filmen aus den letzten Jahren, die Cinelibre in Zusammenarbeit mit dem Verein Made in Italy bis Ende Dezember in Deutschschweizer Kinos und Filmclubs bringt. Der Bogen spannt sich dabei von einem Heimatfilm im besten Sinn des Wortes über eine schillernde psychologische Studie und einen Dokumentarfilm bis zur Komödie.

"Il vento fa su il giro" ("Der Wind hat sich gedreht") sieht man den Einfluss von Giorgio Dirittis Lehrer Ermanno Olmi an. Kongenial verknüpft Diritti dokumentarische Alltagsbeobachtung mit einer fiktiven Geschichte, wenn er einen französischen Ziegenhirten mit seiner Familie in einem abgelegenen piemontesischem Bergdorf, in dem noch okzitanisch gesprochen wird, eine neue Heimat suchen lässt. Die Jungen sind längst weggezogen, die Alten schotten sich ab, doch mit einer Kostprobe seines Käses kann Philippe sie dann doch für sich gewinnen. Feierlich werden er und seine Familie aufgenommen, doch bald wachsen Misstrauen und Missgunst wieder und Verleumdungen setzen ein.

In großartigen Landschaftstotalen in die abgeschiedene Bergwelt eingebettet und in sich änderndem Licht und Farben den Wechsel der Jahreszeiten einfangend erzählt Diritti unaufgeregt und einfühlsam. Nah ist er an den großteils von Laien gespielten Dorfbewohnern dran, presst keine dramatische Geschichte hinein, sondern lässt der ruhigen Beobachtung viel Raum. So entwickelt sich ein komplexes Bild vom Verschwinden einer Kultur, aber auch von der Verstocktheit der Dorfbewohner, die nicht erkennen, dass sich mit dem Ziegenhirten die Möglichkeit einer Symbiose von Tradition und Moderne böte, und den Ausverkauf ihrer Welt als Ferienort vorziehen.

Vom Aufeinanderprallen unterschiedlichster Kulturen und Mentalitäten erzählt auch Agostino Ferrente in seinem Dokumentarfilm "L´orchestra di Piazza Vittorio". Ferrente zeichnet die Entstehungsgeschichte eines multiethnischen Orchesters in Rom von der ersten Idee im Herbst 2001 bis zum ersten großen Konzert ein Jahr später nach. Aus einer Initiative gegen die Schließung des Kinos Apollo in dem vor allem von Migranten bewohnten Viertel in der Nähe des Bahnhofs Termini entwickelte sich rasch ein Verein, der sich zum Ziel setzte ein multikulturelles Orchester zu gründen.

In der Schilderung der – aufgrund fehlender finanzieller Mittel - schwierigen Suche nach Musikern, die auf den Straßen, in der Metro oder über andere Musiker erfolgte, lässt Ferrente auch in Lebensgeschichten und Wohnsituationen blicken. Kubaner, Tunesier, Inder, Argentinier und Ägypter werden so für das Projekt begeistert und den Begegnungen ist vielfach Musik dieser Künstler unterlegt.

Indem im finalen Konzert dann diese individuellen Musikstile zu einer Einheit zusammengeführt werden, jeder seinen Stil bewahrt, ein Individuum bleibt, aber doch alle zusammen spielen und aufeinander musikalisch reagieren, konterkariert "L´orchestra di Piazza Vittorio" auch die ausländerfeindlichen Demonstrationen, die mehrfach eingeschnitten sind. Der Ausgrenzung stellt Ferrente in diesem Dokumentarfilm, in dem die gesellschaftspolitische Komponente mindestens gleichwertig neben der musikalischen steht, ein Miteinander und eine gegenseitige Befruchtung gegenüber.

Während Fabrizio Bentivoglio in seinem in den 70er Jahren spielenden Regiedebüt "Lascia Perdere, Johnny!" (Vergiss es, Johnny!) liebevoll-ironisch und mit nostalgischem Charme von einem jungen Mann erzählt, der von einer Musikerkarriere träumt, verknüpft Carlo Mazzacurati in "La giusta distanza" ("Auf angemessene Distanz") das Porträt einer norditalienischen Provinzstadt mit einem leisen psychologischen Thriller.

In kein Schema passt schließlich sich Paolo Sorrentino, der in seinem schillernden "L´amico di famglia" ("Ein Familienfreund - Unser Freund") das Porträt eines alten geldgierigen Wucherers vorlegt. Wie zuletzt in "Il Divo" ist Sorrentino weniger daran interessiert eine chronologische Geschichte zu erzählen als vielmehr mit einer Fülle von Szenen einen facettenreichen und ambivalenten Charakter zu zeichnen. Surreale, an Bunuel erinnernde Szenen mischen sich dabei mit Fellineskem und Traumsequenzen mit Realität zu einer überbordenden Groteske, die mit ihrer Fülle an inhaltlichen, aber auch visuellen und akustischen Einfällen stets aufs Neue zu überraschen vermag. – Bleibt nur zu wünschen und zu hoffen, dass das 39-jährige Ausnahmetalent Sorrentino mit seinem neuen Projekt nicht ein ähnliches Schicksal erleidet wie viele andere seiner italienischen Kollegen in den letzten Jahrzehnten.