Der Holocaust an der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki, der Kampf einer Pfarre in New Orleans für ihren Pfarrer oder das Porträt einer Berner Prostituierten. – Themen, die kaum bekannt und gerade deshalb Stoff für spannende Dokumentarfilme sind. Wie man bei einer fiktiven Geschichte über Spielsucht und Asylanten dagegen scheitern kann, zeigte bei den 43. Solothurner Filmtagen Mohammed Soudanis "Roulette".
Der Dokumentarfilm verlangt oft vom Regisseur eine andere Arbeitsweise als der Spielfilm: Vielfach muss er zunächst ein Thema finden, das den Zuschauer interessiert – ein wenig bekanntes erleichtert diese Aufgabe. Zweitens muss er interessante Interviewpartner finden und ihr Vertrauen gewinnen, sodass sie sich ihm öffnen und natürlich erzählen und drittens muss er die Fülle des Materials, die sich dabei ergeben wird, ordnen und durch die Montage verdichten.
Wie das Ergebnis ausschauen kann, sieht man an David Fonjallaz´, Louis Matarés und Simon Jäggis mittellangem Dokumentarfilm. In "Frau Mercedes – Alt werden auf dem Autostrich" porträtieren sie die Prostituierte Sylvia Leiser, halten ihren Alltag fest und lassen sie auf ihr Leben zurückblicken. So wird nicht nur ein spannender Einblick in ein Leben und einen sonst aus dem Bewusstsein verdrängten Randbereich unserer Gesellschaft geboten, sondern es werden auch die Veränderungen in diesem Gewerbe sichtbar: Am Autostrich gehört Sylvia Leiser nämlich nicht zu den ältesten Prostituierten, sondern liegt mit ihren 65 Jahren gerade mal im Altersschnitt. Keine ist hier jünger als 50, denn an die Stelle dieses Gewerbes treten zunehmend "Salons".
Ein vergessenes Stück Geschichte bringt auch Paolo Poloni in "Salonica" ans Licht. Vom Holocaust hört man immer wieder und denkt dabei vor allem an die polnischen Juden. Dass aber auch das griechische Thessaloniki bis zum Zweiten Weltkrieg eine blühende jüdische Gemeinde mit rund 55000 Mitgliedern hatte, wird dabei vergessen. Hierher flohen spanische Juden nach Abschluss der Reconquista (1492), aber auch ägyptische Juden - "Zweites Jerusalem" war der Beiname dieser Mittelmeerstadt. Aber Paolo Poloni hat nicht nur Juden, sondern auch Roma, Makedonier und russische Immigranten aufgespürt.
Aufgrund der Fülle der interviewten Personen werden zwar keine komplexen Porträts gezeichnet, aber wie bei einem Puzzle fügen sich die einzelnen Teilchen zu einem vielgestaltigen Bild des Lebens in der multikulturellen Stadt – eines Lebens, das immer noch von der Last der Geschichte geprägt ist - einer Geschichte, die den Menschen vielfach ihre Identität und ihre Heimat genommen hat. - Im wiederkehrenden Blick von der Hafenmole auf das Meer und einen einzelnen Tanker findet Poloni ein ebenso poetisches wie eindrückliches Bild für dieses Gefühl.
Als Glücksfall muss man es schließlich ansehen, dass der zwar in New York geborene, aber in der Schweiz aufgewachsene Peter Entell auf die Geschichte der New Orleanser Pfarrgemeinde St. Augustine und ihres charismatischen Pfarrers Jerome LeDoux gestoßen ist. Sechs Monate nach dem Hurrikan Katrina wollte der Erzbischof aus Sparmaßnahmen diese Pfarre mit der Nachbarpfarre zusammenlegen und den Pfarrer versetzen. Die Gläubigen ließen sich das aber nicht so einfach gefallen und organisierten den Widerstand.
Entell dokumentiert in "Shake the Devil Off" diesen Akt des zivilen Ungehorsams und ergreift entschieden Partei für die Gemeinde und gegen die Obrigkeit, die über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheidet. Die ganze mitreissende Leidenschaftlichkeit, mit der der 74jährige Pfarrer mit Songs und Tanz seine Predigten aufpeppt, oder mit der die vorwiegend afroamerikanische Gemeinde für ihren Seelsorger Partei ergreift und auch vor einer Kirchenbesetzung nicht zurückschreckt, fängt Entell hautnah ein. Um Objektivität ist Entell nicht bemüht – er will intervenieren und gerade in seiner Einseitigkeit, in seiner Parteinahme entwickelt "Shake the Devil Off" seine bewegende Kraft und Vitalität. Und bei aller Fokussierung auf diesen Kampf schwingt im Hintergrund doch immer auch die große überstandene Katastrophe - der Hurrikan Katrina – mit, auf die nun eine weitere menschliche Katastrophe folgen soll.
Wie man eine packende Ausgangssituation dagegen verschenken kann, zeigt Mohammed Soudanis Spielfilm "Roulette". Ein spielsüchtiger Schweizer freundet sich in dieser Tessiner Produktion mit einem albanischen Asylanten an, der wiederum mit einer kolumbianischen Asylantin befreundet ist. – Die angeschnittenen Themen sind interessant, doch einerseits ist die Personenkonstellation furchtbar konstruiert – alle drei sind zudem noch schwer traumatisiert – und andererseits wird nichts entwickelt. Ohne konsequenten Aufbau mit Spannungsdramaturgie und ohne überzeugende Vertiefung der psychischen Situation der Figuren reiht Soudani holzschnittartig Szenen aneinander. – Was am Ende bleibt, sind nicht Schicksale, sondern einzig einige stereotype, aber schicke Bilder aus dem Casino.