Atom Egoyan: Kunstvoll verschachtelte Reflexionen über Identität

Mit Filmen wie "Exotica" und "The Sweet Hereafter" stieg der Kanadier Atom Egoyan in den 1990er Jahren zu den großen Regisseuren des modernen Kinos auf. Zwar konnte er seither die in ihn gesetzten Erwartungen nie ganz erfüllen, dennoch demonstrierte er auch in Thrillern wie "Chloe" oder "The Devil´s Knot" seine virtuose Inszenierungskunst. Das Filmpodium Zürich widmet Egoyan bis Ende März eine Retrospektive.

Identität zu finden war für Atom Egoyan selbst schwierig. 1960 wurde er in Kairo als Sohn eines armenischen Künstlerehepaars geboren, das ihrem Kind den ungewöhnlichen Vornamen gab, weil in seinem Geburtsjahr in Ägypten ein Atomkraftwerk errichtet wurde. Schon drei Jahre später übersiedelte die Familie aufgrund von Nassers nationalistischer Politik an die kanadische Westküste. Dieser Emigrantenstatus bestimmt(e) nicht nur Egoyans Leben, der nach seiner eigenen Aussage beschloss Anglokanadier zu werden, sondern auch sein Werk.

Mit seinen armenischen Wurzeln setzte er sich in "Calendar" (1993) und "Ararat" (2002) auseinander, um personale Identitätsprobleme kreisen nicht nur "Next of Kin" ("Die nächsten Angehörigen", 1984) und "Family Viewing" ("Familienbilder", 1987), sondern auch seine Meisterwerke "Exotica" (1994) und "The Sweet Hereafter" ("Das süße Jenseits", 1997).

Zur Homogenität seines Werks trägt dabei auch wesentlich die Zusammenarbeit mit einem fixen Team bei: Egoyans Ehefrau Arsinée Khanjian spielt in beinahe allen Filmen mit, Mychael Danna komponiert die Filmmusik und Paul Sarossy führt die Kamera.

Zumal in "Exotica" und "The Sweet Hereafter" erzählt Egoyan dabei nicht linear, sondern reiht fragmentarische Szenen aneinander, die der Zuschauer wie bei einem Puzzle zu einem Gesamtbild fügen muss. Wie bei einem Striptease dringt Egoyan so in "Exotica" – der Titel ist auch der Name des Nachtclubs, in dem ein Großteil des Films spielt – Stück für Stück in die Psyche der Figuren vor und erst langsam gewinnt man Einblick in das traumatische Erlebnis, das sie verbindet.

30 Zeitperioden werden nach Egoyans eigener Aussage in "The Sweet Hereafter" verwoben, in dem ein Anwalt in ein kanadisches Dorf kommt, um eine Schadenersatzklage gegen den Hersteller eines Busses anzustreben, nachdem bei einem Busunfall 14 Schulkinder ums Leben gekommen sind.

Immer wieder wird von den Recherchen des Anwalts in die Idylle zurück geblendet, sehen wir die Kinder beim Spielen, beim Warten auf und beim Einsteigen in den gelben Bus und bei der fröhlichen Fahrt durch die verschneite Landschaft. Quälend intensiv sind diese Szenen durch das Aufschieben der Katastrophe, von der wir wissen, dass sie geschehen wird.

Gleichzeitig schafft diese vielfach gebrochene und fragmentarische Erzählweise, aber auch Distanz, hält den Fortgang der Erzählung in der Schwebe und verhindert ein Abgleiten in Sentimentalität. Darüber hinaus überhöht die leitmotivische Variation der Geschichte vom Rattenfänger von Hameln "The Sweet Hereafter" zu einer ebenso packenden wie universellen Parabel über die Verarbeitung von Verlust und Trauer.

Sind sowohl "Exotica" als auch "The Sweet Hereafter" durch weitgefächerte Beziehungsgeflechte gekennzeichnet, so konzentriert sich Egoyan in "Felicia´s Journey" (1999), seinem ersten nicht selbst produzierten und nicht in Kanada gedrehten Film, auf eine einsame junge Frau, die langsam eine Beziehung zu einem nach außen hin netten älteren Herrn aufbaut.

Auch die komplexen Zeitstrukturen treten in diesem subtilen Psychothriller, in dem Egoyan Michael Powells "Peeping Tom" variiert und augenzwinkernd Alfred Hitchcocks "Suspicion" zitiert, zugunsten einer linearen Handlungsführung zurück. Rückblenden sind klar als solche gekennzeichnet, sind im Stile des klassischen Erzählkinos der Haupthandlung untergeordnet und eindeutig in einer Person geortet.

Die Rätsel und Geheimnisse, die zumal "Exotica" über das Ende hinaus bewahrt, mögen fehlen, dennoch besticht auch hier die meisterhafte Inszenierung, die Musik- und Tonmontage, und Paul Sarossys stets langsam gleitende Kamera erzeugt eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann.

Nach der verschachtelten Aufarbeitung des türkischen Genozids an den Armeniern in "Ararat" (2002), der auch die Schwierigkeit und Notwendigkeit des Erinnerns thematisierte, folgte mit "Where the Truth Lies" ("Wahre Lügen", 2005) ein als Film noir angelegtes Vexierspiel über Wahrheit und Identität.

Auch hier verschränkt Egoyan virtuos zwei Zeitebenen, wenn eine junge Journalistin 1972 im Fall einer 15 Jahre zuvor im Hotelzimmer eines erfolgreichen Entertainerduos tot aufgefundenen Studentin ermittelt, doch wirkt dieser Film allzu kühl und kalkuliert. So sehr man die Kunstfertigkeit bewundert, so wenig berührt "Where the Truth Lies" den Zuschauer.

Virtuose Verschränkung von Zeit- und Realitätsebenen kennzeichnet auch "Adoration" ("Simons Geheimnis", 2008), während der Erotikthriller "Chloe" (2009) zwar gewohnt elegant inszeniert, aber auch konventionell erzählt ist. Im Zentrum des nach Toronto verlegten Remakes des französischen Films "Nathalie" steht eine Gynäkologin, die das titelgebende Callgirl engagiert, um ihren Mann zu testen.

Nur bedingt zu überzeugen vermochten auch das Krimidrama "The Devil´s Knot", in dem Egoyan den realen Mord an drei Kindern im Jahre 1993 in West Memphis, Arkansas, in fiktionalisierter Form neu aufrollt, sowie der Thriller "The Captive" (2014), während seinem jüngsten Film "Remember" (2015) zwar wieder eine virtuose Inszenierung attestiert, aber auch kolportagehafte Handlung vorgeworfen wurde.

Wünschen würde man folglich dem Kanadier, der sich auch als Opernregisseur einen Namen gemacht hat und Wagners "Die Walküren" sowie Richard Strauss" "Salome" inszeniert hat und mit "Away From Her" ("An ihrer Seite", 2006) auch das Spielfilmdebüt Sarah Polleys, zu deren Karriere er mit Rollen in "Exotica" und "The Sweet Hereafter" entscheidend beigetragen hat, dass er endlich wieder einmal an seine großen Filme der 1990er Jahre anknüpfen kann.

Trailer zu "Remember"