Anker gelichtet - 65. Filmfestival von Cannes

20. Mai 2012
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Nach der Eröffnung mit Wes Andersons "Moonrise Kingdom" ist das 65. Filmfestival von Cannes in vollem Gange. Neue Filme von Jacques Audiard, Matteo Garrone, Yousri Nasrallah und Ulrich Seidl bestimmten die ersten Festivaltage. Doris Senn berichtet vom Glamourfestival an der Côte d´Azur.

Die Eröffnung des 65. Filmfestivals von Cannes mit "Moonrise Kingdom" von Wes Anderson war gefällig: Zwar bezeichnete das Branchenblatt "Variety", die US-Produktion als «zuckrige Romanze», doch das Märchen um einen verliebten 12-jährigen Pfadfinderjungen, der mit seiner Liebe durchbrennt und damit ein Dorf in Atem hält, bescherte dem Festival einen entspannten Beginn und eine Reihe (Alt-)Stars für den roten Teppich: Tilda Swinton, Bruce Willis, Bill Murray und Edward Norton beehrten Cannes in diesem Rahmen für das Festival-Opening.

Nun ist das Festival an der Croisette in Fahrt und hat schon einige der 22 Wettbewerbsfilme vom Stapel gelassen. Zum Beispiel den französischen "De rouille et d"os" von Jacques Audiard: ein Stoff für mindestens fünf Melodramen plus eine Sozialstudie à la Ken Loach.

Ein Kickboxer namens Alain entführt seinen Sohn nach Frankreich und lässt sich auf illegale Knock-out-Kämpfe ein, um über die Runden zu kommen. Dann lernt er eine attraktive Wal-Trainerin (Marion Cotillard) kennen, die wenig später ihre Beine durch einen Killerwal verliert, Alains Schwester wird gefeuert, woran auch er Schuld trägt, und schließlich ertrinkt auch noch fast sein Sohn, nachdem er unbeaufsichtigt auf der Eisfläche eines kleinen Sees einbricht.

Das Erstaunlichste an diesem Film ist, dass er trotz so viel Tragödien seltsam unberührt lässt: zu überladen die Handlung, zu flach die Charaktere. So hielt sich die Betroffenheit in Grenzen, und an der Pressekonferenz interessierte insbesondere, wie es technisch möglich war, den Star Cotillard mit verstümmelten Beinen zu zeigen...

Yousri Nasrallah – der einzige Vertreter aus dem afrikanischen Kontinent im Wettbewerb – präsentierte mit "Baad El Mawkeaa" einen gut gemeinten Film über die Zeit nach dem arabischen Frühling: Er zeigt, wie die ägyptische Gesellschaft auseinanderklafft, emanzipierte Frauen darum kämpfen, nicht auf Familie und Religion zurückgebunden zu werden, und untere Schichten von der revolutionären Linken abgeschnitten sind und man sie nun integrieren müsste, nämlich durch gewerkschaftliche Aufklärung.

All dies wird durch eine eher abstruse Liebesgeschichte zwischen einer Journalistin in Trennung und einem (analphabetischen) Angehörigen der Kaste der Reiter, die "die Pferde zum Tanzen bringen", verklammert und erreicht trotz seiner engagierten Botschaft höchstens besseres Telenovela-Niveau.

Der mit grossen Erwartungen befrachtete neue Film von Matteo Garrone, "Reality", liess eine pointierte Auseinandersetzung mit der italienischen Gesellschaft und ihrem Verhältnis zu den Medien erwarten, geht es darin doch um einen neapolitanischen Fischhändler namens Luciano, der sich für "Big Brother" bewirbt und auf dem Weg dazu das Gefühl für die Realität seiner Lebenswelt verliert.

Leider übt sich Garrone in Fellini-hafter "Folklore" – obwohl es aus den letzten beiden Jahrzehnten Berlusconi-Regime viel Realsatire und berühmte legendäre Filmvorbilder für sein kleines Drama um einen grossen Traum gibt – etwa "Lo sceicco bianco" von Federico Fellini oder "Bellissima" mit Anna Magnani, die für ihren Traum, ihre kleine Tochter zum Cinecittà-Star zu machen, ihre Familie aufs Spiel setzt.

Garrone, der – wie er sagt – nach "Gomorrha" das Genre wechseln und eine "commedia all"italiana" machen wollte, vermag nicht wirklich lustig und nicht wirklich dramatisch zu sein und beschert dem zweistündigen Film einige Hänger. Schliesslich findet er zu einem lauwarmen Schluss: Statt dass Luciano sich auf dem Petersplatz inmitten der Gläubigen durch seinen Freund wieder zur Vernunft (und zum Glauben) bekehren ließe, bricht er unerkannt in die Pseudowelt von "Big Brother" ein, um mit einem verzweifelten Lachen das groteske Szenario (und den Film) zu beenden.

Last, but not least präsentiert der "Extremfilmer" Österreichs, Ulrich Seidl, im Wettbewerb seinen neusten Streich: den ersten Teil einer Trilogie über Frauen mit dem Titel "Paradies: Liebe". Darin geht es um ältere österreichische Sextouristinnen in Kenia, die sich junge schwarze Lovers anlachen. Teresa folgt dem Rat einer Freundin und bucht einen Urlaub in Kenia – mit der vagen Erwartung, eine Liaison mit einem der jungen "Neger" vor Ort einzugehen.

Doch das geht nach einigen Anlaufschwierigkeiten ziemlich in die Hosen – wollen doch letztlich alle Geld von ihr: für sich, für die Schwester, den kranken Vater oder den verunfallten Bruder. Ausserdem muss Teresa den jungen Männern erst mal beibringen, wie das mit dem erotischen Berühren geht: also nicht Zwicken oder "Tatschitatschi", sondern gefühlvoll streicheln. Und sie muss schliesslich einsehen, dass ihr grosser Traum – nämlich dass einer der jungen Männer aus Liebe handeln würde – Illusion ist, und sie wird zunehmend ungehalten und frustriert.

Seidl, der zum ersten Mal für einen Film professionelle Schauspielerinnen castete, zeigt sich dabei von seiner bekannt sarkastischen Seite – er verharrt auf dem fülligen nackten Körper der gealterten Frau, gibt ihre unbedarften Äußerungen wider, die Hartnäckigkeit der Freier, zeigt aber auch, dass die schwarzen Lover nicht einfach gutgläubige Opfer sind, sondern längst auch ihre Rolle (und ihr Interesse) an diesem Spiel gefunden haben.

Trotz seiner gewohnt plakativen Botschaft bietet der Film viel Echoraum für Reflexionen zum Thema Rassismus, Sexismus, Altern, Sexualität und Postkolonialismus. Doris Senn