Amnesialand

Der Definition gemäß wäre "Amnesialand" ein Land, in dem jegliche Form des Erinnerns ausgelöscht wurde. "Amnesialand" ist auch der Titel der Arbeit, die in der ersten Einzelausstellung von Stefanos Tsivopoulos in Deutschland präsentiert wird und die den Blick auf eine aus dem kollektiven Gedächtnis ausradierten Geschichte im Südosten von Spanien lenkt. Eine zwischen Realität und Fiktion oszillierende Geschichte über das Vergessen, die Stefanos Tsivopoulos zum Anlass nimmt, über die Macht von Bildern und die Notwendigkeit des Menschen, seine Geschichte bildhaft darzustellen, nachzudenken. "Amnesialand" war Tsivopoulos" Beitrag zur Manifesta 8.

Im Mittelpunkt der Ausstellung steht ein filmischer Essay, der von der kurzen wirtschaftlichen Blüte und Ausbeutung der mittlerweile brachliegenden Minenregion La Union um die Stadt Murcia zu Anfang des 20. Jahrhunderts erzählt. Bilder der zerstörten Landschaft und von historischen Fotoplatten, die einst das Gedächtnis der Region bildeten, wechseln sich mit schwarzweißen Dokumentarfotografien aus einem Archiv in Cartagena ab. Eine andere Szene zeigt eine Person beim Auspacken einer Reihe von historischen Glasnegativen, auf deren beschädigten Oberflächen Interieurs und Porträts einer aufstrebenden Bürgerschaft zu sehen sind, deren Reichtum auf der Ausbeutung der Minen gründete.

Der gesamte Film wird von einem Dialog zwischen einer weiblichen und männlichen Stimme begleitet, die dem quasi dokumentarischen Charakter der Bilder eine zunehmend irritierende fiktive Bedeutungsschicht hinzufügen. Ihr Gespräch kommt immer wieder auf ein Ereignis zu sprechen, welches dazu geführt haben soll, dass das gesamte visuelle Bildarchiv der Gegend ausgelöscht wurde. Während der Film voranschreitet, tauchen im Dialog immer neue Unstimmigkeiten im Umgang mit Begrifflichkeiten oder Zeitformen auf. Schlussendlich entwirft der Dialog ein utopisches Zukunftsszenario, in dem alle digitalen und physikalischen Archive zerstört wurden, das nichtsdestotrotz in der Vergangenheit liegt.

Mit seinem Filmessay erzählt Tsivopoulos eine Geschichte, die dem imaginären Szenario der ausgelöschten Erinnerungen Lügen straft. Denn Stefanos Tsivopoulos hört nicht auf, neue Bilder zu errichten und setzt so ein Zeichen für die unerschöpfliche Kapazität von Bildern als erinnerungsstiftendes und -erhaltendes Medium.

Die Unterschiede zwischen Fakt und Fiktion sowie deren unterschiedliche Beziehungen zueinander stehen im Mittelpunkt der Videoarbeiten des aus Prag gebürtigen Künstlers. Spielten in seinen früheren Werken noch Untersuchungen von Machtstrukturen in kontrollierten Umfeldern eine große Rolle, befasst sich Tsivopoulos in seinen neueren Arbeiten mit Erinnerungen und deren Vermittlung in den und durch die Medien. 2007 nahm er an der ersten Thessaloniki Biennale und der ersten Athen Biennale teil. Seinen ersten Biennale-Auftritt hatte er im Jahr 2004 in Liverpool. Er lebt in Amsterdam und Athen und wurde in beiden Städten auch ausgebildet.

Stefanos Tsivopoulos. Amnesialand
4. Dezember 2010 bis 23. Januar 2011