Alte und Neue Pilzköpfe

(Schwaz) Vom 7. bis 22. September 2007 schossen Klänge wie Pilze aus dem Schwazer Erdreich, nahe und ferne zeitgenössische Töne in 25 Klangspuren-Veranstaltungen. Die Pilze sind gegessen, die Musik ist verklungen; und dennoch bleibt viel.

Auf seinem Gut südlich von Rom hat der Alte Pilzkopf Hans Werner Henze seine 14. Oper fertig gestellt. "Phaedra" heißt sie, der junge sächsische Lyriker Christian Lehnert, Pfarrer zu Müglitztal bei Dresden, hat das Libretto geschrieben. Uraufgeführt wurde das jüngste Opus des 81-Jährigen am 6. September in Berlin, sein wuchtiger kammermusikalischer Part, lyrisch und grotesk, kam von Mitgliedern des Frankfurter Ensemble Modern. Am selben Tag, aber gut 850 km südlich war derweil Henzes Sinfonia No. 6 für 2 Kammerorchester als "transart"-Opening in Bozen zu hören: historische Neue Musik, die 1969 in Kuba uraufgeführt worden und aus dem Geist eines Komponisten als uomo sociale entstanden war.

Packend mitanzusehen und mitanzuhören waren die Korrespondenzen zwischen dem Haydn Orchester Bozen/Trient und dem Tiroler Symphonieorchester Innsbruck allemal – und machten anderntags, am 7. September, den Opener auch beim Nordtiroler Partnerfestival Klangspuren in Schwaz aus. Wobei: Recht eigentlich eröffnet wurden die Klangspuren 07 mit der Symphonie Nr. 3 für großes Orchester des Innsbrucker Organisten, Kirchenmusikers, Komponisten und Musikpädagogen (wie ein Errandum zum umfänglichen Programmbuch des Festivals klar stellte) Kurt Estermann. Der lieferte ein gewitzt durchmischtes Auftragswerk aus Stillstand, Bewegung, Soli und Licht ab, das diese semantischen Felder und den zur Verfügung stehenden Instrumentenpark gekonnt durchmaß. Den MusikerInnen machte es ganz offensichtlich Spaß, sich unter dem Dirigat Johannes Kalitzkes in Estermanns effektvoll inszeniertem Klanghabitat zu ergehen. Und das Publikum in der weiten, mit Rollteppich ausgelegten Schwazer Tennishalle verfolgte ihre Weg mit gespanntem und zunehmend begeistertem Blick. Erst dann wurde es politisch, wurde für "den Henze" umgebaut und festgeredet. Und am Schluss versetzten die sechs Schlagwerker von The Next Step und Contakt ihr Publikum mit Iannis Xenakis "Persephassa" in rotierenden Trance.

Das ist nun schon wieder eine Zeit lang her, denn die Klangspuren 07 sind samstags, den 21. September, zu Ende gegangen. Sonntags zur Festival-Mitte pilgerte eine anwachsende Hundertschaft von Maria Larch in Terfens zum Innsbrucker Dom - ein beschaulicher 13-Stunden-Tag, weil durch sechs kleine Stationskonzerte versüßt. Anwachsend war auch der Raumklang des Lettischen Radio-Chors, der sich morgens in St. Michael zu Gnadenwald trocken erhob, in St. Michael zu Absam freudig emporschwang und den riesigen Innsbrucker Dom schließlich gemeinsam mit Windkraft Kapelle für Neue Musik ausfüllend durchatmete. Die anderen drei Kirchen der Pilgerwanderung bespielten die jungen Musiker, welche im Rahmen der Internationalen Akademie mit Musikern des Ensembles Modern Kammermusikalisches einstudiert hatten. Sie musizierten lustvoll in jeder Beziehung.

Gescheitert waren sie in Schwaz an der großen Persönlichkeit des zeitgenössischen Musiklebens, die in Person Michael Gielens zum Festival geladen war. Am 12. September las der heuer seinen 80. Geburtstag feiernde Dirigent und Komponist aus seinen Erinnerungen "Unbedingt Musik", die vor zwei Jahren im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschien. Musik sei für ihn das Angebot an eine wache Hörerschaft, "der Wahrheit zu begegnen. Und die ist nicht immer angenehm.", meint er darin. So war’s hier dann auch tatsächlich. Gielen befand den Reifungszustand in der Probenarbeit mit der IEMA an seinem eigenen Stück als ungenügend und reiste diesbezüglich unverrichteter Dinge ab. Das Akademiekonzert am 19. September unter Frank Ollu wurde mit dem Gielen-Ersatz "tria ex uno" des Grazers Georg Friedrich Haas dennoch ein umjubelter Abend, wofür nicht zuletzt "Jagden und Formen" von Wolfgang Rihm, dem zweiten großen Namen und Composer in residence 2007, gesorgt hatte.

Ein statisches Liegestuhlkonzert stand als Kontrast zu der wegintensiven Pilger- und der Pilzwanderung mit Sven Hartenberger vom Klangforum Wien und dem Tiroler Ensemble für Neue Musik auf dem Programm. John Cage war sie gewidmet, dem der Vergleich von Klang und Pilz zugeschrieben wird. Quartett-Formationen waren schwerpunktartig über die Dauer der 15 Festivaltage zu hören, das Minguet Quartett etwa, das - nachmittags für Kinder, abends für Erwachsene - die fünf Streichquartette Jörg Widmann erstmals überhaupt en suite intonierte; oder das Quatuor Bozzini, das den Schlusspunkt setzte, in der lauschigen Kirche St. Martin zu Schwaz. Mein Gott, wie schön, dass all diese Musiker ihren Klangmantel weniger marianisch über ihrem Publikum ausbreiteten, als ihn martinsgleich teilten. So manchen wird dieses Tongewebe noch lange wärmen. (bs)