So verschieden Gus Van Sants grandioser "Paranoid Park", Aoyama Shinjis "Sad Vacation" und Maria Ramos" Dokumentarfilm "Juízo" auch sein mögen, gemeinsam ist diesen bei der Viennale gezeigten Filmen doch, dass immer Jugendliche im Mittelpunkt stehen, die nicht zuletzt an dysfunktionalen Familienverhältnissen leiden oder zerbrechen. Lachende Kinder sieht man nur in Volker Koepps "Holunderblüte".
Die Befindlichkeit von Jugendlichen ist schon seit "My Own Private Idaho" (1991) das große Thema von Gus Van Sant. In "Paranoid Park" hat der Amerikaner seinen in "Elephant" und "Last Days" entwickelten Stil perfektioniert. Im Mittelpunkt steht der junge Alex, den sichtlich schwere Schuldgefühle belasten. Ursache und Zusammenhänge werden aber erst langsam klar, denn Van Sant erzählt nicht linear, sondern lässt den von Gabe Nevins mit großer physischer Präsenz gespielten Alex achronologisch auf die Ereignisse zurückblicken.
Indem sich so Szenen wiederholen, Wortfetzen wieder aufgegriffen werden und nicht zuletzt dank einer hypnotischen Ton- und Musikmontage, die sich nicht nur bei der Filmmusik Nino Rotas für Fellinis "Julia und die Geister", sondern auch bei Beethoven und Popsongs bedient, schafft Van Sant ein ebenso traumverlorenes wie intensives Stimmungsbild der Befindlichkeit eines Jugendlichen und seiner Generation. Der illegal von Skateboardern gebaute Skaterpark scheint in einer Welt, in der die Jugendlichen von ihren gleichgültigen Eltern allein gelassen sind – Erwachsene kommen in "Paranoid Park" bezeichnenderweise fast nicht vor – wie ein letzter Zufluchtsort und ein Paradies. Christopher Doyles schwerelos fließenden Super-8 Aufnahmen dieser Skater-Szene, die in Kontrast zu den 35mm-Aufnahmen der "realen" Filmhandlung stehen, vermitteln dabei intensiv dieses Außer-der-Welt-Sein, die Befreitheit und die Sehnsucht nach diesem Zustand, aber auch die Melancholie angesichts der Einsicht einer Unmöglichkeit der Befreiung.
Schwer traumatisiert von der Abwesenheit der Mutter und dem Selbstmord des Vaters ist auch der junge Kenji in Aoyama Shinjis "Sad Vacation". Wie in Shinjis Meisterwerk "Eureka", auf das an einer Stelle auch direkt Bezug genommen wird, geht"s um Verbrechen und Traumatisierung, denn einst war Kenji in eine Gewalttat verwickelt. Erinnerungsfetzen an dieses Verbrechen steigen immer wieder in ihm auf. Die Schuld für sein nicht geglücktes Leben sucht er nun bei der Mutter, die die Familie vor Jahren verlassen hat. Zunächst sieht er sie zufällig, dann sucht er sie gezielt und findet in ihrer neuen Familie Aufnahme. Geleitet wird Kenji aber vom Gedanken sich an seiner Mutter zu rächen.
So entwickelt der breit angelegte Film Züge einer klassischen Tragödie. Ausufernder und nicht so geschlossen wie "Eureka" ist "Sad Vacation" inszeniert, lässt in der Fülle der Figuren und Episoden, die immer um die Sehnsucht nach einer intakten Familie kreisen, eine klare Linie vermissen und ist auch nicht frei von stilistischen Brüchen, besitzt aber dennoch großartige Szenen voller Poesie wie eine – auch eine Analogie zu "Eureka" – Fahrt in die Berge, die in ihrer Unberührtheit in scharfem Kontrast zu den trostlosen, lebensfeindlichen Industrielandschaften stehen, oder im Spiel mit Seifenblasen.
Von größter Nüchternheit ist dagegen "Juízo" der Brasilianerin Maria Ramos. Ramos dokumentiert ohne jeden Kommentar und ohne Musik Verhandlungen gegen jugendliche Straftäter sowie den Alltag im Gefängnis. Vom Diebstahl eines Fahrrads über bewaffneten Raub und Kokainhandel bis zum Mord am Vater spannt sich der Bogen. Apathisch nehmen die Straftäter das Urteil der Richterin, die ehrlich bemüht um die Jugendlichen ist, hin, scheinen es teilweise nicht einmal zu verstehen. Gemeinsam ist den meisten Fällen aber, dass neben dem Zwang, den Gangs auf den Einzelnen ausüben, meistens desolate familiäre Verhältnisse als Auslöser erscheinen. Diese dahinter stehenden Familiengeschichten interessieren Ramos aber so wenig wie die einzelnen Straftäter. Statt individuelle Schicksale herauszuarbeiten wird akribisch die Arbeitsweise des Gerichtes geschildert und durch die bloße Beschreibung implizit die Frage aufgeworfen, was an einer Gesellschaft faul ist, in der Jugendliche reihenweise zu Straftätern werden.
Noch jüngere Protagonisten hat Volker Koepp für "Holunderblüte" ausgewählt. Noch einmal ist der deutsche Dokumentarfilmer nach "Kalte Heimat", "Fremde Ufer" und "Die Gilge" nach Ostpreußen in das Gebiet des heute russischen Kaliningrad zurückgekehrt. Eine Handvoll Kinder begleitet er durch den Wechsel der Jahreszeiten, lässt sie von ihrem Alltag, ihren Erlebnissen und ihren Hoffnungen für die Zukunft erzählen. Immer wieder ist da vom weit verbreiteten Alkoholismus die Rede. Der Regisseur selbst erwähnt im auf ein Minimum beschränkten Kommentar auch Arbeitslosigkeit, Absiedelung und Niedergang der Landwirtschaft. Die Natur erobere sich die wirtschaftlich einst blühende Region zurück, heißt es da an einer Stelle.
In langsamen Schwenks, in denen das Land vielleicht ein Fünftel des Bildes und der Himmel die restlichen vier Fünftel einnimmt, vermittelt "Holunderblüte" nicht nur einen wunderbaren Einblick in diese windige Gegend, sondern schafft auch Pausen zwischen den Erzählungen. Unaufgeregt reiht Koepp Szenen aneinander, verzichtet auf jede Dramatisierung und vertraut ganz seinem ebenso genauen wie geduldigen Blick auf Land und Leute. – Die Gesichter der trotz aller Misere und vielfältiger Schicksalsschläge größte Lebensfreude ausstrahlenden und frei erzählenden Kinder gehen einem nicht so schnell aus dem Kopf.