Acts of Voicing

Die Stimme, die anders als Auge oder Ohr kein einheitliches Sinnesorgan ist, sondern vielmehr aus dem flüchtigen Zusammenspiel mehrerer Organe wie Lunge, Stimmbänder, Zunge und Gaumen besteht, ist schwer zu fassen. Sie befindet sich immer zugleich innerhalb und außerhalb des Körpers, ist ebenso immateriell wie von beträchtlichem sozialem und politischem Gewicht.

Sie bringt gleichermaßen Schrei und Rede, Sinn und Unsinn, Rauschen und Gesang hervor. Und sie ist nie nur Werkzeug der Artikulation, sondern immer auch mit Handlung verknüpft: Die Stimme kann Dinge benennen, befehlen oder einen Schwur leisten, Menschen für schuldig oder zu Mann und Frau erklären. "How to Do Things with Words?" (Wie kann ich etwas mit Worten tun) lautete 1962 die Frage des Begründers der Sprechakttheorie John L. Austin.

Die Ausstellung "Acts of Voicing" widmet sich der ästhetischen, performativen und politischen Bedeutung der Stimme aus der Perspektive von bildender Kunst, Tanz, Performance und Theorie. Das Projekt rückt den Handlungs- und Aufführungscharakter der Stimme in den Blick. Dabei geht es gleichermaßen um die widerständige wie um die disziplinierte und disziplinierende Stimme, um solche Stimmen, die gehört, und andere, die nicht gehört werden. Der Kampf darum, seiner Stimme Gehör zu verschaffen, wird ebenso beleuchtet wie der Akt, Stimmen zum Schweigen oder zum Sprechen zu bringen.

Die Ausstellung, für die eine spezielle Architektur entwickelt wurde, zeigt hierzu nicht nur Werke von über 30 KünstlerInnen, sondern begreift sich zugleich als Bühne für Performances, Workshops und Vorträge sowie eine Reihe von prozessualen Installationen, die im Verlauf der Ausstellung erweitert werden und das Gesamtszenario beständig verschieben. Anstelle einer statischen Situation soll ein sich immer wieder verändernder Erfahrungsraum entstehen, durch den hindurch sich die BesucherInnen auch im physischen Sinne auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. Sowohl die Ausstellungschoreografie als auch ihr Display spielen mit dem performativen Charakter der
Stimme.

Die politischen Dimensionen der Stimme, die "Acts of Voicing" befragt und die noch in Begriffen wie Parlament, Stimmrecht oder Abstimmung anklingen, lassen sich bis auf die griechische Antike zurückführen. So unterscheidet Aristoteles, der Begründer der politischen Philosophie, zwischen der bloßen Stimme (phoné), das heißt dem Schrei, der nur Lust oder Schmerz äußern kann, und der Bedeutung produzierenden Stimme (lógos), die das Gerechte und Ungerechte, das Gute und Böse auszudrücken vermag: eine Differenz, die – zumindest in den abendländischen Denktraditionen – ausschlaggebend für die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, dem bloßen und dem politischen Leben ist: das heißt zwischen den aus der politischen Gemeinschaft Aus- und in diese Eingeschlossenen.

Dagegen ereignet sich für den französischen Philosophen Jacques Rancière politisches ebenso wie ästhetisches Handeln in der unablässigen Anfechtung und Neuaufteilung eben jener Ordnung, die dafür sorgt, dass die Stimmen der Einen als Rede, und die der Anderen nur als Schrei vernommen werden. Es geht darum, die bestehenden Ordnungen – seien diese sinnlicher, gesellschaftlicher, politischer, räumlicher oder ästhetischer Art – aufzubrechen und Fremdes, das, was ausgeschlossen war, in sie einzuführen. Dabei wohnt der Stimme, die sich weder gänzlich innerhalb noch gänzlich außerhalb des Körpers befindet, grundsätzlich ein fremder Kern inne. In den technischen Wiedergaben unserer eigenen Stimme dringt dieser fremde Kern bekanntlich auf schockierende Weise durch. Es scheint, wie Slavoj Žižek schreibt, als gehörte die Stimme nie ganz zu dem Körper des Sprechers, als sei beim Sprechen immer auch ein Stück Bauchrednerei im Spiel.

"Acts of Voicing" geht diesem fremden Kern, das heißt jenem Paradox der Stimme nach, zugleich eigen und fremd, innerlich und äußerlich, an den Körper (und das Wort) gebunden und von diesen losgelöst zu sein. Denn es ist die Lücke zwischen der eigenen und fremden, inneren und äußeren Stimme, die den Raum des Politischen und des Poetischen öffnet.

KünstlerInnen:Bani Abidi, Daniel García Andújar, Anonym / Transgender Voice, John Baldessari, Samuel Beckett, deufert + plischke, Ines Doujak, Juan Manuel Echavarría, Tim Etchells, Rainer Ganahl, Mariam Ghani, Gary Hill, Anette Hoffmann / Matei Bellu / Regina Sarreiter, Karl Holmqvist, Ranjit Hoskoté, Jacques Lacan, Minouk Lim, Mara Mattuschka, José Pérez Ocaña, Manuel Pelmus, David Riff / Dmitry Gutov, Anri Sala, Smith / Stewart, Marcus Steinweg, Imogen Stidworthy, Raša Todosijević, Fadi Toufiq, Ingrid Wildi Merino / Decolonial Group Berlin, Katarina Zdjelar, Yang Zhenzhong und andere

Acts of Voicing
Über die Poetiken und Politiken der Stimme
13. Oktober 2012 bis 13. Januar 2013