Abstraktion und Einfühlung

Die Ausstellung "Abstraktion und Einfühlung", zusammengetragen aus der umfangreichen Grafiksammlung der Deutschen Bank, ist in Titel und Inhalt von Wilhelm Worringers Studie Abstraktion und Einfühlung (1907) inspiriert. Worringer bestimmt in ihr zwei gegensätzliche Tendenzen, die von der Antike bis zur Aufklärung die Entwicklung der Kunst maßgeblich beeinflusst haben.

In Zeiten großer gesellschaftlicher Unsicherheit und höchster Vergeistigung, wie etwa im alten Ägypten oder im europäischen Mittelalter, nähert sich die Kunst einer flachen, kristallartigen "Abstraktion". Andererseits herrschen in Kulturen, die der Wissenschaft und der konkreten Wirklichkeit verhaftet sind, wie das antike Griechenland oder das Italien der Renaissance, naturalistische, körperhafte Stile vor, die Worringer unter dem Begriff "Einfühlung" zusammenfasst. Wie in der Kunstgeschichte damals gebräuchlich widmete sich Worringers Buch ausschließlich der Vergangenheit und vernachlässigte das zeitgenössische Kunstschaffen völlig. Dessen ungeachtet wurde Abstraktion und Einfühlung nach seiner Veröffentlichung – nur ein Jahr nachdem Pablo Picasso sein Meisterwerk Les Demoiselles d’Avignon vollendet hatte – schnell zu einem Schlüsselwerk, das entscheidend zum Verständnis des aufsteigenden Expressionismus und der Rolle der Abstraktion im frühen 20. Jahrhundert beitrug.

Die von Carmen Giménez, Kuratorin für Kunst des 20. Jahrhunderts des Solomon R. Guggenheim Museum, New York, organisierte Ausstellung Abstraktion und Einfühlung versammelt Werke, die einer ähnlichen ästhetischen Dichotomie gehorchen, wie sie Worringer in seinem Buch skizziert. Den Kern der Schau bilden zirka hundert Zeichnungen und Drucke von vier Künstlern: Joseph Albers, Michael Buthe, Blinky Palermo und Thomas Schütte. In Übereinstimmung mit Worringers Sicht der Abstraktion beschäftigen sich Albers und Palermo mit der Wirkung von Farbe und Geometrie auf der Bildfläche. Buthe und Schütte praktizieren hingegen einen stärker gestischen, gegenständlichen Stil, der die Präsenz des menschlichen Körpers im gelebten Raum anspricht und näher dem Begriff der Einfühlung bei Worringer verwandt ist. Ergänzt werden diese Werkkomplexe durch eine kleine aber hochqualitative Auswahl von Leihgaben, die den Entwicklungsweg von Worringers Einfluss in Gemälden von Philip Guston, Paul Klee und Piet Mondrian nachweisen.

Die Künstler, die im Mittelpunkt dieser Ausstellung stehen, sind zweifelsohne als Einzelpersönlichkeiten aufzufassen, die unter einzigartigen Bedingungen und historischen Voraussetzungen arbeiten. Betrachtet durch das Prisma von Worringers Theorien gewinnt ihr Werk indessen eine neue Wertigkeit, die es uns gestattet, den Stellenwert von Abstraktion und Einfühlung in der zeitgenössischen Kunst neu zu überdenken.


Abstraktion und Einfühlung
15. August bis 16. Oktober 2009