70mm - Kino in Überbreite

28. September 2009 Walter Gasperi
Bildteil

Um der Anziehungskraft des Fernsehens Paroli bieten zu können, setzte Hollywood ab Mitte der 1950er Jahre auf den 70mm-Film. – In der Schauburg in Karlsruhe findet vom 2. bis 4. Oktober 09 wieder ein 70mm-Festival statt, das sich ganz der grandiosen Wirkung des Breitfilms widmet.

Schon in den Anfangszeiten des Kinos wurde mit anderen Formaten als dem üblichen 35-mm Normalformat experimentiert. Die Brüder Lumière arbeiteten schon 1900 mit einem 75-mm Film und in Hollywood gab es in den frühen 1930er Jahren Versuche mit diversen zwischen 56 mm und 70 mm breiten Formaten. Legendäres Beispiel für eine kongeniale frühe Arbeit mit einem überbreiten Filmformat sind die Szenen von Abel Gances Stummfilm "Napoleon" (1927), in denen sich die Leinwand weitet und drei Handlungsstränge in einem filmischen Triptychon parallel ablaufen.

Intensiviert wurden diese Experimente aber erst Anfang der 50er Jahre, als man mit neuen Attraktionen – auch der 3D-Film ist dazu zu zählen – der zunehmenden Abwanderung des Kinopublikums vor den Fernsehschirm entgegenarbeiten wollte. Aufgrund technischer und ästhetischer Probleme nicht durchsetzen konnte sich das Cinerama-Verfahren, bei dem mit drei gekoppelten Kameras gefilmt und mit drei Projektoren vorgeführt wurde. Nur die zwei Großproduktionen "The Wonderful World of the Brothers Grimm" (Georg Pal, Henry Levin; 1961) und der Western "How the West Was Won" (John Ford, Henry Hathaway, George Marshall; 1962) wurden in diesem Verfahren gedreht.

Als erfolgreicher erwies sich das Mitte der 50er Jahre von Michael Todd zusammen mit der American Optical Co. entwickelte Todd-AO-Verfahren. Mit dieser Technik wurden vor allem Filme der Genres gedreht, in denen dieses filmische Überformat seine Wirkung am besten entfaltete. Das waren einerseits Musicals wie "Oklahoma!" (Fred Zinnemann, 1955), "Porgy and Bess" (Otto Preminger, 1959), "Sound of Music" (Robert Wise, 1964) und "Hello, Dolly!" (Gene Kelly, 1968/69) und andererseits Antik-Filme wie "Ben Hur" (William Wyler 1959) oder "Cleopatra" (Joseph L. Mankiewicz, 1961-63). Aber auch die Jules-Verne-Verfilmung "In 80 Days Around the World" (Michael Anderson, 1959) wurde in Todd AO gedreht. Nach James Clavells während des 30-jährigen Kriegs spielender Abenteuerfilm "The Last Valley" (1969/70) legte dieses Verfahren eine zwanzig Jahre lange Pause ein, ehe mit Ron Frickes zivilisationskritischem Dokumentarfilm "Baraka" (1990-92) wieder ein Film – und der bislang letzte – mit Todd-AO gedreht wurde.

In der Öffentlichkeit bekannter als Todd-AO ist das wesentlich kostengünstigere Cinemascope-Format, bei dem es sich allerdings nicht um 70mm-Film handelt. Dabei wird nämlich mit 35 mm Film gedreht und die Überbreite durch den Einsatz des anamorphotischen Linsensystems erzeugt.

Ein Todd-AO verwandtes Verfahren sind dagegen Super Panavision 70, mit dem Klassiker wie David Leans "Lawrence of Arabia" (1961/62), Robert Wises und Jerome Robbins´ Musical "West Side Story" (1960/61) und Stanley Kubricks bahnbrechender Science-Fiction-Film "2001 - A Space Odyssey" (1965-68), aber auch Dimension 150, mit dem aber nur John Huston "La bibbia" (1964-66) und Franklin J. Schaffners "Patton" (1968-70) gedreht wurden.

Nach einer Pause in den 1970er Jahren griff man mit Steven Lisbergers "Tron" (1981/82) und Douglas Trumbulls "Brainstorm" (1981-83) in den USA wieder kurzzeitig Super Panavision 70 auf und wiederum zehn Jahre später drehte Ron Howard sein Epos "Far and Away" (1991/92) mit dem gleichen Verfahren.

Aber nicht nur in den USA und in England, sondern auch in Osteuropa entstanden in den 60er Jahren 70-mm Filme. Konrad Wolfs "Goya" (1969-71) ist der wohl bekannteste der sieben Spiel- und drei Dokumentarfilme umfassenden DEFA-70-Produktion und Beispiele für sowjetische Sowscope-70-Filme sind Sergej Bondartschuks "Krieg und Frieden" (1962-1967) und Samson Samsonows "Optimistische Tragödie" (1963).

So großartig freilich der Eindruck dieser Breitwandfilme auf den Zuschauer ist, so aufwändig war die Produktion. Die Kameras waren in der Regel viel größer und schwerer als bei 35 mm und das Filmmaterial deutlich teurer. Deshalb wurden nur als Blockbuster konzipierte Filme, die mit visueller und klanglicher Opulenz das Publikum überwältigen sollten, auf 70 mm gedreht. Als durch die Verbesserung des 35-mm-Negativmaterials der Qualitätsvorteil von 70 mm gegenüber 35 mm schwand, entschied man sich deshalb auch bei bildgewaltigen Filmen zunehmend für das billigere 35-mm-Material.

Anlässlich der Retrospektive der Berlinale 2009 zum 70mm-Film ist im Bertz+Fischer Verlag unter dem Titel "70mm – Bigger than Life" eine reich bebildertes, durchgängig zweisprachiges (deutsch/englisch) Buch erschienen, das nicht nur die Geschichte des Breitfilms nachzeichnet, sondern auch die 22 Filme, die im Rahmen der Berlinale-Retrospektive gezeigt wurden, einzeln vorstellt.