69. Filmfestival von Locarno: Die Ohnmacht des einfachen Bürgers

Während Kristina Grozeva und Petar Valchanov mit "Slava – Glory" eine bissige tragikomische Abrechnung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen im heutigen Bulgarien vorlegen, lässt Rita Azevedo Gomes in "Correspondencias" einen Briefwechsel rezitieren. Eine Entdeckung in der Retrospektive: Ottomar Domnicks "Jonas".

Unübersehbar ist die in Europa herrschende Terrorangst auch im Tessiner Ferienort, denn schwerbewaffnete Polizisten patrouillieren um die Piazza Grande und bei den Vorführungen werden Rucksäcke und Taschen kontrolliert.

Auf die gesellschaftliche Situation in Bulgarien blicken dagegen im Wettbewerb Kristina Grozeva und Petar Valchanov mit "Slava – Glory". Wie in ihrem starken Debüt "Urok – The Lesson" am Beispiel einer Lehrerin, so entwickeln sie hier aus der Geschichte um zwei Einzelpersonen ein Bild gesellschaftlicher Missstände im heutigen Bulgarien. Vor Überzeichnung schreckt das Regie-Duo dabei nicht zurück, wenn es der PR-Chefin des Verkehrsministers einen nicht nur einfachen, sondern auch noch stotternden Gleisarbeiter gegenüberstellt.

Dass die Karrierefrau zudem noch ein Kind will, bei den Gesprächen mit dem Gynäkologen über die künstliche Befruchtung aber stets durch Handygespräche mit ihrem Büro abgelenkt wird, hätte man zwar weglassen können, doch wie Grozeva/Valchanov dann Schritt für Schritt diese Geschichte weiterentwickeln und die starke Besetzung des Gleisarbeiters mit Stefan Denoybov nimmt doch für diese Tragikomödie ein.

Grundehrlich ist dieser Tsanko Petrov, gibt die Millionen, die er bei seiner Arbeit auf dem Bahngleis findet, sofort bei seinen Vorgesetzten ab. In medialer Inszenierung wird er dafür vom Minister geehrt, erhält eine Urkunde und eine neue Uhr, von seiner Frage nach den ausstehenden letzten Monatsgehältern und dem Hinweis auf Treibstoffdiebstahl bei der Bahn will der Minister aber nichts wissen. Verloren geht aber bei der Ehrung Tsankos alte Uhr, die er von seinem Vater geerbt hat.

Diese will er nun zurückbekommen, doch der PR-Chefin geht der hartnäckige Mann bald nur noch auf die Nerven und sie lässt ihn links liegen. Zum gefundenen Fressen wird er dadurch freilich für einen TV-Journalisten, der Tsanko wiederum für seine Zwecke einspannt, ihn seinerseits vor der TV-Kamera die Missstände anprangern und über das Verschlampen seiner Uhr klagen lässt. Die PR-Chefin hat damit freilich wenig Freude und holt zu Gegenmaßnahmen aus.

Nah an den Figuren bleibt das Regie-Duo, bettet sie aber immer in ihr Milieu ein und dreht geschickt an der Handlungsschraube. Treffend wird so am Einzelfall die Arroganz der Oberschicht aufgedeckt und nicht nur mit Korruption abgerechnet, sondern auch mit der Instrumentalisierung des einfachen Bürgers, den man im Grunde verlacht, ihn aber andererseits gerne benützt, wenn man mit seiner Hilfe die Öffentlichkeit für sich gewinnen kann.

Im Gegensatz zu dieser klassischen Erzählweise geht die Portugiesin Rita Azevedo Gomes in "Correspondencias" einen formal ungleich kühneren Weg. Sie hat den fast 20 Jahre umspannenden Briefwechsel zwischen Jorge de Sena, der 1959 aus politischen Gründen nach Brasilien und später in die USA ins Exil ging, und Sophia de Mello Breyner Andresen nicht dramatisiert, sondern lässt die Briefe rezitieren.

Mal sieht man dabei unterschiedliche SchauspielerInnen beim Rezitieren, mal ist den aus dem Off eingesprochenen Texten teils auf alt getrimmte Super-8-Filme sowie auch echtes Archivmaterial unterlegt. Kunstvoll spielt Gomes mit unterschiedlichen Filmformaten und verschränkt sie, doch die Wirkung bezieht dieser an Straub/Huillet erinnernde Film vor allem aus den Texte, die um Exil, Heimatlosigkeit und Sehnsucht kreisen und natürlich auch durch die Sprachmelodie des Portugiesischen viel Melancholie – oder eben Saudade – entwickeln.

Die herausragende Entdeckung konnte man aber bislang in der Retrospektive machen, die heuer dem bundesdeutschen Kino zwischen 1949 und 1963 gewidmet ist. Verbindet man diese Epoche meist mit Heimat- und Kostümfilmen, so überrascht Ottomar Domnicks 1957 entstandener Schwarzweißfilm "Jonas" durch seine kühne, avantgardistische Form.

Auf Dialog wird weitgehend verzichtet, fast ausschließlich über den von Hans Magnus Enzensberger geschriebenen und von unterschiedlichen Personen gesprochenen Kommentar wird ein Tag aus dem Leben des in einer Druckerei arbeitenden Jonas erzählt. Mit expressiven Bildern und Text, unterlegt teilweise mit Jazz von Duke Ellington, wird nicht nur eine Atmosphäre der Vereinsamung und Entfremdung in der modernen Großstadt, sondern auch des Zwangs zur Konformität und Normierung sowie der Rolle der Werbung im Land des Wirtschaftswunders evoziert.

Zunehmend steigert sich Jonas, dessen Name natürlich auch mehrfach in Bezug zur biblischen Figur gesetzt wird, in diesem kafkaesken Alptraum so in eine Paranoia und sukzessive wird auch ein tiefes Schuldgefühl, an dem dieser Durchschnittsbürger zu zerbrechen droht, sichtbar. – Ein weitgehend vergessener, ganz und gar ungewöhnlicher Film für das bundesdeutsche Nachkriegskino, der das Interesse auf weitere Filme dieser Retrospektive weckt.