69. Filmfestival Locarno: "Mister Universo" als erster Leoparden-Anwärter

Bestimmten in den letzten Jahren eher sperrige Filme den Wettbewerb, so bietet das Herzstück des Festivals bislang weitgehend konventionell erzähltes Kino, überrascht dabei aber mit einer Vielfalt, deren Bandbreite sich vom japanischen Soft-Porno bis zur ägyptischen Bollywood-Variante erstreckt. – Erster Leoparden-Anwärter ist aber Rainer Frimmels und Tizza Covis "Mister Universo".

Bunt, aber nicht immer hochklassig ist bislang der Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno. Durchaus unterhaltsam ist beispielsweise Akihiko Shiotas "Wet Woman in the Wind", in dem eine junge Frau mit ausgiebiger Lust am Sex mit ihrem Verhalten den Dramatiker Kazue, der den Frauen abgeschworen und sich in eine Hütte im Wald zurückgezogen hat, so lange provoziert, bis er ihren Avancen doch nachgibt.

Lustvoll gemacht ist dieses teils parodistische Spiel mit dem japanischen Soft-Porno-Film der 1970er Jahre, macht Spaß in seiner unbekümmerten Lust am Trash, doch offen bleibt, was diese 77 Minuten, von denen etwa die Hälfte aus Sexszenen bestehen, im Wettbewerb eines renommierten Filmfestivals zu suchen haben.

Das fragt man sich freilich auch bei "Brooks, Meadows and Lovely Faces" von Yousry Nasrallah. Gesellschaftskritisches würde man wohl bei einem aktuellen Film aus Ägypten erwarten, doch überraschend bekommt man mit der Geschichte um drei Brüder, die sich erst durchringen müssen, den Damen ihres Herzens ihre Liebe zu gestehen, eine ägyptische Variante eines Bollywoodfilms – oder eine Hommage an das ägyptische Mainstrem-Kino der 1940er und 1950er Jahre – geboten.

Da schmachten die Männer und ebenso die Frauen, doch die Figuren gewinnen sowohl aufgrund des Drehbuchs als auch der schwachen Schauspieler kein Profil. Das Wasser kann einem im Mund angesichts der zahlreichen Speisen, die hier gekocht und gegessen werden, zusammenlaufen, doch auch die knallbunten Kostüme können nicht über die inhaltliche Dürftigkeit dieses Films hinwegtäuschen, der lange wie eine ziemlich platte Komödie daherkommt, bis plötzlich völlig überraschend und unpassend ein brutaler Mord die Heiterkeit stört. Äußerst holprig ist dann auch die Kehrtwende zum doch noch glücklichen Ende.

Eine Kurswende zeichnet sich somit zur Halbzeit im Wettbewerbsprogramm gegenüber den letzten Jahren ab. Stand der Name von Festivalleiter Carlo Chatrians bislang für einen kantigen Wettbewerb mit formal herausfordernden und schwierigen Filmen, so fehlen – abgesehen vielleicht von "Correspondencias" – ästhetisch innovative Filme im Wettbewerb bislang völlig. Offen bleibt freilich, ob das Absicht ist oder sich einfach aus den zur Verfügung stehenden Filmen ergab.

Feststellen lässt sich bislang auch, dass das Bemühen im Wettbewerb beinahe ausschließlich Weltpremieren zu präsentieren sich nicht unbedingt positiv auf das Niveau auswirkt. Sorgten in den letzten Jahren Filme vom Sundance-Festival wie "Short Term 13"oder israelische Filme, die schon am Jerusalem-Filmfestival liefen wie "Tikkun" für Höhepunkte, so wurden auf solche "Banken" heuer entweder von der Festivalleitung verzichtet – oder waren nicht zu bekommen.

Wieder nach Locarno holte aber Chatrian Rainer Frimmel und Tizza Covi, die schon vor vier Jahren mit "Der Glanz des Tages" für einen Höhepunkt sorgten. Seinem Stil und seinen Themen bleibt das Regieduo mit "Mister Universo" zwar treu, überrascht folglich nicht, doch mit welcher Meisterschaft und Selbstverständlichkeit Frimmel/Covi Dokumentarisches und Fiktives mischen und maximale Authentizität erzeugen, begeistert immer noch.

Im Grunde beschränken sie sich darauf, ausgehend von einem verlorenen oder gestohlenen Glücksbringer, einen jungen italienischen Raubtierdompteur auf eine Reise durch Italien und zu verschiedenen Familienmitgliedern, die alle ebenfalls beim Zirkus arbeiten, zu schicken, um schließlich den ehemaligen Mister Universum Arthur Rubin aufzuspüren, der ihm einst den Glücksbringer schenkte.

Ganz auf das Alltägliche beschränken sich Frimmel/Covi, dramatisieren nicht, sondern begleiten unaufgeregt mit der Kamera, erzeugen aber durch den ebenso genauen wie empathischen Blick von der ersten Szene an Interesse am Schicksal und den Sorgen des Dompteurs, seiner Freundin und den Menschen, denen er auf seiner Reise begegnet.

Mit dokumentarischer Genauigkeit schildern sie den Alltag im Zirkus, die Lebensbedingungen am Rande der Gesellschaft, verlassen nie diese Welt und entwickeln erst langsam daraus eine Geschichte, in der es immer wieder und vielfältig variiert ums Glück und ums Auf und Ab des Lebens, aber auch ums Altern und die Vergänglichkeit geht, wenn schließlich dem 87-jährigen ehemaligen Mister Universum die junge Freundin des Löwendompteurs, die als Schlangenfrau arbeitet und schon unter Rückenproblemen leidet, gegenübergestellt wird.

Leicht kann man diesen ganz in neorealistischer Tradition stehenden Film aufgrund seiner scheinbaren Einfachheit und Kunstlosigkeit übersehen, ist aber gerade darin große Kunst.