69. Filmfestival Locarno: Aussparung und kunstvolle Verschränkung

Nach überraschend zugänglicher erster Hälfte brachte der Wettbewerb mit Angela Schanelecs "Der traumhafte Weg" und Anocha Suwichakornpongs "Dao Khanong" doch noch zwei rätselhafte Filme. Kunstvoll, aber immer übersichtlich verschränkt werden dagegen Vergangenheit und Gegenwart in Milagros Mumenthalers "La idea de un lago".

Fast die Hälfte der 17 Filme des Wettbewerbs stammen von Frauen – eine große Ausnahme in dieser Branche. Regisseurinnen sorgten auch für die formal radikalsten und damit auch sperrigsten Filme.

Unübersehbar an Robert Bresson orientiert sich Angela Schanelec in "Der traumhafte Weg". Wie der große Franzose arbeitet auch die deutsche Regisseurin mit großen Ellipsen, markanten Detailaufnahmen statt Totalen und lässt die Schauspieler ihre Dialoge bewusst emotionslos-monoton sprechen.

Die Handlung beginnt in den 1980er Jahren in Griechenland. Theres und Kenneth spielen als Straßenmusikanten an einem Platz in Athen, auf dem eine Demonstration für die mit dem antiken Griechenland verbundenen menschlichen Werte und gegen Wirtschaftsdenken veranstaltet wird. Als Kenneth bei einem Anruf über einen Unfall seiner Mutter informiert wird, kehrt er nach England zurück, Theres geht wieder nach Deutschland, wo sie einen Sohn gebärt, studiert und 1989, als sich die Grenzen öffnen, nach Berlin übersiedelt.

Mit einem Schnitt überspringt Schanelec nicht nur rund 25 Jahre, sondern wechselt auch die Protagonisten, denn im Mittelpunkt steht nun eine Fernsehschauspielerin, die ihren Mann verlässt, bis doch wieder Theres und auch Kenneth ins Bild kommen.

Einprägsam ist der im 4:3 Format gedrehte Film immer wieder in seiner reduzierten Bildsprache wie der Hand Kenneths, die auf der Hand der im Koma Mutter ruht, einem Fläschchen Morphium, neben dem Geldscheine liegen, einem Schuh an einem U-Bahn-Bahnhof.

Faszinierend ist auch die sehr elliptische und kühle Erzählweise, als Meditation über den Verlust von Visionen und das Scheitern der Aufbruchsstimmung kann die Kontrastierung der politischen Bewegungen der 1980er Jahre mit der Emotionslosigkeit und Kälte des Spiels der Schauspieler, aber auch des modernen Berlin gelesen werden.

Doch neben allen Schönheiten gibt es eben auch zu viele irritierende, enigmatische Momente, wie der Umstand, dass Theres 1984 die gleiche Kleidung trägt und gleich alt ist wie in der Gegenwart, wie ihr plötzlich an den Rollstuhl gefesselter Sohn, wie ihre Erklärung nach Berlin zu gehen, während sie sich dann im Wald ins Moos legt. – So sehr die Rätselhaftigkeit provoziert und zum Nachdenken und Diskutieren anregt, so sehr frustriert sie letztlich doch auch.

Auch die Thailänderin Anocha Suwichakornpong macht es mit "Dao Khanong" dem Zuschauer nicht leicht. Denn was zunächst mit nachgestellten Fotos vom Terror der Militärdiktatur und einem Interview für einen Spielfilm über die Studentenrevolten der späten 1970er Jahre in einem Landhaus beginnt, bricht etwa in der Mitte plötzlich mit einem Ausschnitt aus einem Stummfilm von Georges Méliès ab und setzt mit einem erfolgreichen Schauspieler in einer Großstadt völlig neu ein.

Lassen die ruhige Erzählweise und die in weiche Farben getauchten Bilder den Zuschauer zunächst in den Film eintauchen, so löst der Bruch der Handlung Irritation aus, stellen sich auch hier durch die Leerstellen und verstärkt durch die kulturelle und gesellschaftliche Distanz Rätsel ein.

Eine schlüssige Interpretation ergibt sich kaum, wohl nur Mutmaßungen über die Intentionen der Regisseurin können angestellt werden und in den beiden Teilen kann eine Reflexion über die Rolle des Films als Mittel der Aufarbeitung der Vergangenheit auf der einen Seite und als Medium der Unterhaltung auf der anderen, aber auch über die Gegensätze in der thailändischen Gesellschaft zwischen Stadt und Land gesehen werden.

Weit schlüssiger fügen sich bei Milagros Mumenthalers "La idea de un lago" die Einzelteile zu einem Gesamtbild. Kunstvoll verschränkt die schweizerisch-argentinische Regisseurin in dem bestechend schön fotografierten Film Gegenwart und Vergangenheit, wenn bei einer jungen schwangeren Fotografin, die Arbeit an einem Fotobuch Erinnerungen an ihren während der Militärdiktatur verschleppten Vater wachruft.

Eindrücklich beschwört Mumenthaler mit zurückgenommener Erzählweise, bei der mehr angedeutet als ausformuliert wird, und in einer schwebenden Stimmung die Trauer und Sehnsucht, die sich mit der Erinnerung an den abwesenden Vater verbinden. Ein wunderbar poetisch-verspieltes Bild gelingt hier ebenso, wenn die Protagonistin sich als Kind mit dem grünen Renault des Vaters in einem See schwimmen sieht, wie ein beklemmendes der Diktatur, wenn nachts in einem Wald zunehmend mehr Lichter von Taschenlampen näher rücken. – Zwei starke Kinobilder, die über das Festival hinaus im Gedächtnis bleiben werden.