67. Filmfestival Locarno: Wo bleibt die Menschlichkeit?

Fragen der Menschlichkeit werfen im Wettbewerb des Tessiner Filmfestivals das packende russische Sozialdrama "Durak – Der Narr" und Fernand Melgars Dokumentarfilm "L`abri" auf. Zeichnet der eine ein düsteres Gesellschaftsbild, so rückt der andere Menschen am Rand der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Gegenpol dazu bietet Jean-Pierre Améris, der in dem auf der Piazza Grande gezeigten "Marie Heurtin" in hellen Bildern bewegend zeigt, wie Licht in eine Welt der Dunkelheit kommen kann.

Ein echter Favorit für den Goldenen Leoparden lässt sich zur Halbzeit des Wettbewerbs noch nicht ausmachen, einen starken Eindruck hinterließ aber auf jeden Fall "Durak – Der Narr" des Russen Yury Bykov. Unvermittelt und kraftvoll ist schon der Einstieg: In einem desolaten Wohnblock beschimpft ein Mann Frau und Tochter ihn bestohlen zu haben, schlägt wild auf sie ein, bis eine platzende Wasserleitung ihn stoppt.

Der Leitungsdefekt führt zum Einsatz des Klempners Dima, der feststellen muss, dass der ganze neunstöckige Wohnblock, in dem rund 800 Menschen leben, akut vom Einsturz bedroht ist. Noch in derselben Nacht sucht er deshalb die Bürgermeisterin auf ihrer Geburtstagsfeier auf, lässt sie einen Krisenstab einberufen, um das Haus zu evakuieren. Doch die durch und durch korrupte Oberschicht, die über Jahre sich Gelder gegenseitig zugeschoben hat anstelle in die Sanierung des Gebäudes zu investieren, zögert, denn die Evakuierten müsste man ja irgendwo anders unterbringen.

Feine Zwischentöne sind nicht Bykovs Sache. Mit breitem Pinsel zeichnet er diese korrupte Gesellschaft, die in Saus und Braus feiert und westliche Limousinen fährt, während die Masse in desolaten Verhältnissen lebt. Menschlichkeit findet Bykov aber auch bei der Unterschicht nicht, zeigt ihre Gewalttätigkeit, Alkohol- und Drogensucht. Selbst von seiner Frau und seiner Mutter muss sich Dima, der in die Fußstapfen seines anständigen Vaters tritt, als Narr beschimpfen lassen, da er mehr an das Wohl der 800 Gefährdeten als an das seiner Familie denkt.

Neue filmsprachliche Wege beschreitet Bykov nicht, sondern stellt sich mit der Widmung des Films explizit in die Tradition des 2013 verstorbenen Thrillerspezialisten Alexej Balabanov. Wie dieser rechnet Bykov mit den Mitteln eines kraftvollen und deftigen Sozialdramas mit der russischen Gesellschaft ab. Dichte und Spannung gewinnt "Durak" durch die enge Handlungsführung, die sich zeitlich ganz auf einen Tag und eine Nacht und inhaltlich konsequent auf Dima und seine Bemühungen die Katastrophe zu verhindern konzentriert.

Plakativ mag dieser zutiefst pessimistische Blick auf eine Gesellschaft sein, der abgesehen vom Protagonisten und seinem Vater längst jede Menschlichkeit abhanden gekommen ist, gewinnt in seiner Kompaktheit und atmosphärisch dichten Einbettung in Milieu und kalte Winterstimmung aber Dringlichkeit und Durchschlagskraft.

Ähnlich grau und winterlich kalt wie Bykovs russische Kleinstadt ist auch die italienische Provinz in Bonifacio Angius` "Perfidia". Doch die Geschichte um den 35-jährigen Angelo, der ohne jegliche Interessen und Zukunftsperspektiven nur gelangweilt mit seinen Freunden in einer Bar herumhängt und nur aktiv wird um schließlich einen Mord zu begehen, ödet in seiner Tristesse bald auch den Zuschauer an. - In den Wettbewerb schaffte es "Perfidia" wohl nur, weil man aufgrund der Grenznähe in Locarno nicht auf einen italienischen Film verzichten will.

Fehlende Menschlichkeit im "Rolex-Country" Schweiz deckt dagegen Fernand Melgar in seinem Dokumentarfilm "L`abri" auf. Nach dem Blick auf ein Empfangszentrum für Asylsuchende in "La Forteresse" (2008) und auf den Alltag in der Abschiebehaft in "Vol special" (2011) rückt der Westschweizer nun eine nur im Winter geöffnete Notunterkunft für Obdachlose in Lausanne in den Mittelpunkt.

Kommentarlos, ohne Hintergrundinformationen und ohne Musik dokumentiert Melgar im Direct Cinema-Stil den Kampf am Eingang um einen der nur 50 Plätze, die "Ersatzschlafplätze" auf wärmenden Lüftungsschächten, in Unterführungen oder Schuppen, aber auch die Überforderung des Personals.

Im insistierenden Blick macht "L`abri" zwar eindrücklich und bewegend eine erschütternde Realität bewusst. Bohrend schaut da einer hin, wo man sonst gerne wegschaut, doch neue Erkenntnisse und Einblicke vermag dieser Film kaum zu vermitteln, sondern wiederholt während seiner 100 Minuten Spielzeit in Variationen auch immer wieder dasselbe, übt bissige Kritik nur in wenigen Bildern, wie in der Werbung für ein Steakhouse hinter einer bettelnden Frau, oder dem Schweizer Kreuz auf der Mütze eines Obdachlosen.

Während in diesen Filmen fehlende Menschlichkeit aufgedeckt wird, erzählt Jean-Pierre Améris in "Marie Heurtin", der auf der Piazza Grande gezeigt wurde, beglückend und in lichten Bildern vom großen und unendlichen geduldigen Einsatz für einen Menschen.

Nach einem Fall im ausgehenden 19. Jahrhundert zeichnet Améris die Geschichte der taubblinden 14-jährigen Marie Heurtin nach, die von den Eltern in ein Frauenkloster gebracht wurde, in dem man sich um gehörlose Mädchen kümmert. Leidenschaftlich setzt sich die junge Nonne Marguerite für Marie ein, muss aber lange kämpfen, bis sich Erfolge bei dem widerborstigen Mädchen zeigen, es sich waschen und frisieren lässt und schließlich übers Ertasten auch die Gebärdensprache lernt.

Das Wunder dieses Films sind einerseits die lichtdurchfluteten und in leuchtendes Grün getauchten Bilder, die in starkem Kontrast zur Dunkelheit der Welt der Protagonistin stehen. Weil diese Marie die Welt nicht mit den Augen und Ohren erfassen kann, muss sie den von gesunden Menschen oft unterschätzten Tast- und Geruchssinn einsetzen, dessen Bedeutung Améris in diesem auch wunderbar gespielten, sehr sinnlichen und feinfühligen Film im Tasten und Beschnuppern immer wieder bewusst macht.

Gleichzeitig erzählt der Franzose ("Die anonymen Romantiker") aber auch bewegend vom aufopferungsvollen und nie nachlassenden Einsatz der jungen Nonne, von einem Lernprozess und einem Lehrer-Schülerverhältnis, bei dem die Lehrerin vielleicht noch mehr durch den Erfolg ihrer Bemühungen beschenkt wird als ihr Schützling von seinen Fortschritten. - Einen würdigen Kandidaten für den Publikumspreis hat das Festival damit auf jeden Fall schon.