67. Filmfestival Locarno: Die zwei Gesichter des Festivals

Nur wenigen Filmen gelingt beim Filmfestival Locarno der Spagat große Filmkunst mit Unterhaltung zu verbinden. Oft folgt auf recht mühsame Wettbewerbsfilme erst am Abend auf der Piazza mit Filmen wie "Hin und weg", "Madame Mallory und der Duft von Curry" oder "Schweizer Helden" das leichte Vergnügen. Zu den Ausnahmen zählt allerdings der US-Indie-Film "Listen Up Philip".

Kunstvoll ausgeleuchtet sind die Einstellungen in Pedro Costas "Cavalo Dinheiro – Geldpferd", in Erinnerung bleibt auch ein leuchtend rotes Rüschenhemd, ein ebenso rotes Motorrad, auf dem einmal ein schwarz gekleideter Mann über die Leinwand rauscht, oder das Blinken des Blaulichts auf einer nächtlichen Brücke.

Schwarzweisse Fotos von Arbeitern in den Ziegelfabriken in Lissabon stehen am Beginn des im 4:3 Format gedrehten Films und klar wird in der Folge in endlos langen Gesprächen, dass es um die Rolle dieser Männer bei der Revolution von 1975 geht, doch weder gewinnt man – zumindest ohne Kenntnis der historischen Hintergründe – tiefere Einblicke noch will sich eine Geschichte einstellen, sodass sich die 104 Minuten schier endlos lang dahinziehen. - Ob es Locarno ehrt oder zu kritisieren ist, dass wohl bei keinem anderen Festival dieser Größenordnung ein so sperriger – oder gründlich misslungener? - Film in den Wettbewerb aufgenommen würde, ist Ansichtssache.

Gefordert ist die Fantasie des Zuschauers auch beim brasilianischen Wettbewerbsbeitrag "Ventos de Agosto", denn der vom Dokumentarfilm kommende Gabriel Mascaro reiht einzelne Beobachtungen aneinander, deren Zusammenhang sich erst langsam und nur teilweise erschließt.

Im Mittelpunkt steht die junge Shirley, die sich in einem Dorf am Meer um ihre gebrechliche Oma kümmert. Mal wird ein Totenkopf im Meer gefunden, dann taucht ein Windforscher auf, der alsbald selbst Opfer des Meeres wird, während im Fernsehen von der Zunahme der Tropenstürme berichtet wird.

Bestechend ist das fotografiert, verweigert aber Erklärungen und bleibt so offen für verschiedene Interpretationen, lässt sich sowohl als Evokation des Stillstands und der Trägheit eines schwülen tropischen Sommers als auch als Meditation über den ständigen Wandel und die Vergänglichkeit, über Jugend und Alter, Leben und Tod, Land und Meer lesen.

Griffiger, leichter zugänglich – und auch unterhaltsamer - ist da auf jeden Fall Alex Ross Perrys "Listen Up Philip", der sich freilich weitgehend in den Bahnen des typischen US-Independentfilms bewegt. Ross Perry folgt einem egozentrischen Schriftsteller, der den Verleger ebenso nervt wie einen langjährigen Freund, mit seiner Freundin Schluss macht und sich ins Landhaus seines Idols, das auch nicht sympathischer ist, zurückzieht.

Die Kunst Ross Perrys und seines Hauptdarstellers Jason Schwartzmann besteht einerseits darin das Interesse für dieses Ekelpaket, das keine Läuterung durchmachen wird, aufrecht zu erhalten, andererseits wunderbar locker und natürlich zu erzählen, dass man dem Leben zuzuschauen meint. Dramatisierung ist nicht nötig, die unaufgeregte Begleitung des Protagonisten, dessen Verhalten und Handlungen immer wieder von einem geschickt eingeflochtenen Off-Erzähler kommentiert werden, gute Dialoge und ein sanfter jazziger Soundtrack, der eine melancholische Stimmung erzeugt, reichen für einen zwar nicht besonders überraschenden oder innovativen, aber immerhin runden und sehr sympathischen Film völlig aus.

Im Gegensatz zum Wettbewerb steht beim Piazza-Programm der Unterhaltungsaspekt im Vordergrund. Nicht besonders nachhaltig wirkt beispielsweise Lasse Hallströms Bestseller-Verfilmung "Madame Mallory und der Duft von Curry", aber handwerkliche Perfektion, eine wie fast immer wunderbare Helen Mirren, sichere Beherrschung des Erzähltempos und zahlreiche Postkartenansichten von der malerischen Gegend um den Zusammenfluss von Tarn und Garonne sowie das ausgiebige Zelebrieren von indischer und französischer Kochkunst machen dieses Feelgoodmovie zu einer entstpannten Abendunterhaltung.

Diese bietet auch die Tragikomödie "Hin und weg", in der Christian Zübert von einer Gruppe von Freunden erzählt, die eine Radtour nach Belgien unternehmen, wo – wie erst im Lauf des Films bekannt wird – einer von ihnen aufgrund einer tödlichen Krankheit durch Sterbehilfe aus dem Leben scheiden will. Unterstützt von einem starken Ensemble wechselt Zübert sicher zwischen gefühlvollen und komödiantischen Momenten. Vorwerfen kann man dem Film freilich, dass er durch und durch kalkuliert ist, dem Zuschauer keinen Freiraum lässt, sondern ihn mit allen inszenatorischen Tricks gekonnt emotional manipuliert und vereinnahmt.

Leicht schiefgehen können hätte Peter Luisis Komödie über eine von Mann und Freundinnen verlassene Frau, die zur Selbstfindung mit den Insassen eines Asylantenheims eine Aufführung von Schillers "Wilhelm Tell" einstudiert. Schlimmes befürchtet man bei "Schweizer Helden" schon, als die Asylanten als Karikaturen vorgeführt werden, doch geschickt bricht Luisi dieses Bild, wenn sie bald von der Regisseurin Respekt einfordern oder Mitspieler während der Vorbereitungen abgeschoben werden. Und selbst das Ende ist gebrochen, verstellt nicht den Blick auf das Los von Asylanten, sondern ruft es nochmals in Erinnerung.

Nicht alles ist hier gelungen, zu viel wird angerissen und nicht weiter entwickelt, doch der schwierigen Balanceakt zwischen bedrückender Realität und Komödie ist Luisi erstaunlich gut gelungen. Vorwerfen kann man dem Schweizer zwar, dass hier die Situation der Asylanten weichgespült geschildert werde, doch darf man nicht übersehen, dass gerade eine solche Komödie ein Publikum erreichen könnte, das sich sonst dem Problem verschließt und so in unterhaltsamer Verpackung zum Nachdenken angeregt wird.