Im Museum für Musikautomaten Seewen, Schweiz, 15 km südlich von Basel gelegen, ist man sicher, die lange vermisste Orgel der Britannic – Schwesterschiff der 1912 gesunkenen Titanic – entdeckt zu haben. Das Instrument, welches auf Zeichnungen und einem Foto dokumentiert ist, war nahezu ein Jahrhundert lang verschwunden. Die Entdeckung passierte während der Restaurierung der Welte-Philharmonie-Orgel des Museums.
In den letzten Jahren gab es immer wieder Spekulationen über die Orgeln auf den Schwesterschiffen der Olympic-Klasse. Die im Mai 1911 fertiggestellte Olympic wurde wohl noch ganz ohne Orgel geplant. Das Schiff wurde von den Reisenden der Nordatlantikroute jedoch so sehr geschätzt, dass man sich für die im Frühjahr 1912 fertiggestellte Titanic eine Steigerung des Komforts einfallen lassen wollte. Wahrscheinlich zu dieser Zeit ging die Bestellung für eine pneumatische Orgel an die Firma Welte in Freiburg, die mit ihren Instrumenten auf den internationalen Weltausstellungen der damaligen Zeit bereits Weltruhm erlangt hatte.
Noch vor der Titanic-Katastrophe fand im Dezember 1911 die Kiellegung dieses dritten Schiffes gleicher Grössenordnung statt. Der Stapellauf verzögerte sich nach der Titanic-Katastrophe aber bis zum 26. Februar 1914. In dieser Zeit wurden wohl die Pläne nochmals überarbeitet und die Sicherheit des Schiffes nochmals diskutiert. An den Plänen für den Einbau einer Welte-Philharmonie-Orgel dürfte sich dabei aber nicht viel geändert haben, so dass angenommen werden kann, dass bei der Firma Welte bereits im Jahre 1913 an der Orgel der Britannic gearbeitet wurde.
Im Treppenhaus der ersten Klasse war eine grosse, über zwei Stockwerke reichende Orgel vorgesehen, die zur Erbauung und Unterhaltung der Passagiere aufspielen sollte. Es könnte im übrigen durchaus möglich sein, dass der Einbau einer Welte-Philharmonie-Orgel auch für das identische Treppenhaus der Titanic angedacht worden war, doch wegen des engen Zeitplanes und des Untergangs des Schiffes konnte dieser Plan nicht zur Ausführung gelangen. Welte-Philharmonie-Orgeln gelangten zudem erst ab 1911 in den Verkauf und erst ab 1912 konnten erste Modelle wirklich ausgeliefert werden.
Ende Juli 1914 brach der erste Weltkrieg aus und die britische Admiralität beschlagnahmte alle grossen Passagierschiffe, um sie für kriegswichtige Zwecke als Truppentransporter oder Lazarettschiffe einzusetzen. Auch die Britannic wurde bis Dezember 1915 umgerüstet und danach rund elf Monate im Kriegsdienst eingesetzt. Als schwimmendes Lazarettschiff lief sie am 21. November 1916 vor der Insel Kea in der Ägäis auf eine deutsche Seemine und sank ohne auch nur einen einzigen zivilen Passagier befördert oder ein einziges Mal auf der ihr zugedachten Nordatlantikroute verkehrt zu haben.
Die Firma Welte spricht von einer "Welte-Philharmonie-Orgel an Bord eines grossen englischen Dampfers" und nennt die Britannic nicht namentlich. Dies wohl deshalb, weil die Orgel im Spätsommer 1914 wieder ausgebaut und eingelagert werden musste und die Britannic nie als Passagierdampfer unterwegs war. Da die Britannic gesunken war, konnte die Orgel nach dem Krieg nicht wie geplant wieder eingebaut werden. Ihre Spur verliert sich. Sowohl von Seiten der Erbauer des Schiffes, Harland & Wolff im irischen Belfast, als auch von Seiten der Firma Welte sind keine Unterlagen zum Verbleib der Orgel aufzufinden.
Um 1920 liess sich der Stuttgarter Fotoapparat-Fabrikant August Nagel (1882-1943) eine Welte-Philharmonie-Orgel in die herrschaftliche Villa einbauen. Als grosser Musikliebhaber leistete er sich eine Orgel der weltbekannten Firma aus dem benachbarten Freiburg. Instrumente dieser Art waren auch in Villen von Industriemagnaten oder in den Residenzen der Aristokratie der damaligen Zeit, ein aussergewöhnlicher Luxus, doch gab es eine nicht geringe Anzahl vergleichbarer Orgeln, wie Kundenlisten der Firma Welte zeigen. Um 1935 gab Nagel das Instrument aus unbekannten Gründen wieder an den Freiburger Hersteller zurück.
Es wurde in der Folge auf Initiative von Eugen Kersting (1888-1958) im Jahre 1937 im Festsaal seiner Glühlampen-Fabrik Radium in Wipperfürth im Rheinland eingebaut. Der damals junge Orgelbauer Werner Bosch (1916-1992) ergänzte die Orgel im Dienste der Firma Welte um einige Register und installierte sie in Wipperfürth. Dort blieb sie bis in die 1960er Jahre in Gebrauch und wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der endgültigen Einstellung des Betriebs der Firma Welte vom nun selbständigen Orgelbauer Bosch betreut.
Im Jahre 1961 beispielsweise benutzte ein Schallplattenproduzent die noch funktionierende Welte-Philharmonie-Orgel in Wipperfürth zur Aufnahme von Schallplatten mit vom Komponisten Max Reger im Jahre 1913 an der Freiburger Aufnahmeorgel eingespielten Musikrollen. Diese wurden unter dem Titel "Max Reger spielt eigene Orgelwerke" bei der Firma Electrola in Köln veröffentlicht (1961: 1C 053-28925) und erschienen später als "Regel spielt Reger" auch bei Columbia. Das Instrument stellte sich als bestens geeignet für diese Aufnahmen heraus, entsprach es doch in seiner Registrierung weitgehend der Aufnahme-Orgel von Freiburg, auf welcher Reger gespielt hatte.
Als nach einem Wechsel in der Firmenleitung in Wipperfürth der Festsaal zu einem Lagerraum umgebaut werden sollte, suchte man lange Zeit vergeblich nach einem Käufer für die Orgel. Schliesslich wurde Heinrich Weiss, der Gründer des Museums für Musikautomaten Seewen, auf das Instrument aufmerksam und erwarb es für seine Sammlung. Nach der Überführung in die Schweiz investierte Weiss rund 1500 Stunden in den Aufbau der Orgel und liess sie durch Werner Bosch intonieren. Am 30. Mai 1970 fand in Seewen die feierliche Einweihung der Orgel statt.
Bosch selbst war von der Sammlung in Seewen und der Rettung "seiner" Welte-Philharmonie-Orgel so angetan, dass er Weiss 1230 Mutterrollen der Firma Welte zum Kauf anbot, welche sich aus dem Nachlass der Firma in seinem Besitz befanden. So kommt es, dass das Museum für Musikautomaten Seewen heute nicht nur ein ausserordentliches Instrument mit einer ausserordentlichen Geschichte besitzt, sondern auch entsprechende Originalaufnahmen dazu in der Sammlung des Museums vorhanden sind. Neben Max Reger wurden auf den Musikrollen damals namhafte Künstler wie Harry Goss-Custard, Edwin Lemare, Alfred Hollins, Joseph Bonnet, William Wolstenholme, Eugène Gigout, Clarence Eddy, Marco Enrico Bossi, Karl Straube oder Günter Ramin verewigt.
Im Zuge von Renovationsarbeiten musste die Orgel im Jahre 1998 nach rund dreissig Jahren Dienst ausgebaut und eingelagert werden. Das Museum wurde damals renoviert und erweitert und im Jahre 2000 mit zusätzlichen Räumlichkeiten wiedereröffnet. Die grosse Attraktion des alten Museums blieb jedoch eingelagert. Eine Restaurierung der Orgel wurde erst im Jahre 2006 in Angriff genommen und soll im Spätsommer 2007 abgeschlossen werden. Und im Zuge dieser Renovationsarbeiten entdeckte man nun die eingestanzten Hinweise auf die Britannic.
Die Orgel wird im Herbst 2007 unter anderem an einem Tag der offenen Tür und an zwei Konzertabenden einer breiteren Öffentlichkeit wieder vorgestellt. Sie wird auch im neuen Museum für Musikautomaten und an neuem Ort – nämlich im großen KlangKunst-Saal – ein zentraler Teil der Sammlung bleiben. Die Orgel wird zum Bestandteil einer neu konzipierten Führung und am neuen Standort vermehrt auch für Konzerte genutzt. Die restaurierte Welte- Philharmonie-Orgel des Museums für Musikautomaten bzw. der Britannic von 1913/14 mit entsprechenden Originalaufnahmen ist musikgeschichtlich ein äusserst wertvolles Instrument.