59. Berlinale: Schonungsloser Realismus kontra gediegene Literaturverfilmung

8. Februar 2009
Bildteil

Schon mit dem Auftakt schlägt der Wettbewerb der 59. Berlinale ernste Töne an: Während die Dänin Annette K. Olesen mit "Little Soldier" ein schonungslos realistisches und packendes Drama um die höchst ambivalente Beziehung einer Ex-Irak-Soldatin zu ihrem Vater vorlegt, kommt Stephen Daldrys "Der Vorleser" über eine ebenso gediegene wie uninspirierte Literaturverfilmung nicht hinaus.

Schwer traumatisiert und auch physisch lädiert ist Lotte von einem Kriegseinsatz im Irak heimgekehrt. Fuß fassen kann sie in der dänischen Provinz kaum und flüchtet sich in Alkohol, bis ihr Vater davon erfährt. Immer hat sie sich nach seiner Anerkennung gesehnt, doch er hat die Tochter nach dem Tod der Mutter zu den Großeltern abgeschoben und sie nie besucht. Nun gibt er ihr einen Job als Fahrerin eines afrikanischen Callgirls, das gleichzeitig seine Freundin ist. Denn Lottes Vater leitet nicht nur ein Transportunternehmen, sondern ist nebenbei auch noch als Menschenhändler tätig.

Annette K. Olesen bringt in ihrem neuen Film dem Zuschauer nicht nur das schmutzige Geschäft des Menschenhandels, sondern auch die Situation illegaler Callgirls nahe und schildert gleichzeitig die ambivalente Beziehung zwischen Lotte und ihrem Vater. Denn einerseits sehnt sie sich immer noch nach seiner Anerkennung, andererseits bleibt ihre Beziehung ständig in einer labilen Balance zwischen Zärtlichkeit und Aggression. Als Lotte von einem gewalttätigen Freier fast erwürgt wird und dabei von ihrem Vater keine Hilfe erhält, muss sie erkennen, dass sie auf sich gestellt ist, und versucht das Callgirl, das ihr anvertraut ist aus seiner Situation zu befreien. Lotte will dafür sorgen, dass sich die Nigerianerin besser und persönlich um ihre kleine Tochter, der sie bislang das verdiente Geld schickt, kümmern kann, als sich ihr Vater je um sie gekümmert hat.

Wie schon in "Eins zu Eins" setzt Annette K. Olesen auch in "Little Soldier" auf schonungslosen Realismus, blickt hin, wo andere wegschauen und zeichnet in den kalten Farben des dänischen Winters eine lebensfeindliche Welt. Kurze Momente der Hoffnung, der Zuneigung und der Annäherung gibt es zwar, doch diese erweisen sich als trügerisch und am Ende des packend und speziell von Trine Dyrholm als Lotte expressiv und auch mit großem Mut zur Hässlichkeit gespielten Films steht alles andere als Glück oder eine Lösung, aber immerhin eine endgültige Abnabelung. – Vielleicht ist ja wirklich noch ein Neustart möglich.

Wo "Little Soldier" durch seine Direktheit und seinen schonungslosen Realismus packt, gibt es in Stephen Daldrys Verfilmung von Bernhard Schlinks "Der Vorleser" nur geschmäcklerisch gestylte und keimfreie Bilder. Die Kameramänner Roger Deakins und Chris Menges sind zweifellos Meister ihres Faches, doch allzu sauber ist hier alles arrangiert, in Farben und Licht gesetzt, wenn dem grauen westdeutschen Alltag der 50er Jahre in warmes Braun getauchte Liebesszenen gegenübergestellt werden.

Brav bebildert Daldry Schlinks Roman von einem Gymnasiasten, der Mitte der 1950er Jahre eine Affäre mit einer fast 20 älteren Frau hat, von der er dann rund zehn Jahre später als Jus-Student und Besucher eines Kriegsverbrecherprozesses erfahren muss, dass die einstige Geliebte als KZ-Aufseherin für zahlreiche Morde verantwortlich war. Nun wird ihm auch klar, dass er ihr als Jugendlicher deshalb Werke der Weltliteratur vorlesen musste, weil sie Analphabetin ist.

Erzählt Schlink in seinem Roman nüchtern und sachlich vom schwierigen Umgang der deutschen Nachkriegsgeneration mit dem Nationalsozialismus, mit Schuld und dem Umgang mit den Schuldigen, zu denen doch auch die Vätergeneration gehörte, und verknüpft damit das Thema des Analpabetismus, so fokussiert Daldry, nicht zuletzt durch eine penetrante Musiksauce unterstrichen, stärker auf der Liebesgeschichte, forciert das Melodram und drängt die historisch-moralischen Fragen zugunsten, vor allem gegen Ende hin tränendrückender Emotionen in den Hintergrund.

Gediegen ist das zweifellos inszeniert und von Kate Winslet hervorragend gespielt, während die Mischung aus amerikanischem und deutschen Schauspielern von Hannah Herzsprung bis Bruno Ganz ansonsten nicht überzeugt, sondern wohl das Resultat produktionstechnischer Überlegungen ist. Angesichts des Fehlens jedes eigenen Interpretationsansatzes und jeder ersichtlichen persönlichen Motivation Daldrys wirkt "Der Vorleser" zudem so überflüssig wie sehr viele Literaturverfilmungen.