59. Berlinale: "Nothing Ends"

14. Februar 2009
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"Nothing ends" sind die ersten Worte von Willem Dafoe in Theo Angelopoulos "The Dust of Time". – Aber nicht nur der große Grieche, sondern zahlreiche Filme erzählen bei der heurigen Berlinale vom Hereinwirken der Vergangenheit in die Gegenwart.

Ob in der Verfilmung von Bernhard Schlinks "Der Vorleser", in Hans-Christian Schmids kühlem, aber packenden Drama über eine im Jugoslawienkrieg vergewaltigte Frau, die in einem Kriegsverbrecherprozess aussagen soll ("Storm"), den Schilderungen von Kriegstraumatisierungen in Annette K. Olesens "Little Soldier" und Oren Movermans "The Messenger" oder Michael Glawoggers Haslinger Verfilmung "Das Vaterspiel", aber auch in Bertrand Taverniers US-Südstaaten-Krimi "In the Electric Mist" - immer geht es um die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart.

Auch im ungarisch-rumänischen Wettbewerbsbeitrag "Katalin Varga" bricht die Vergangenheit in die Gegenwart ein, wenn die Titelfigur von ihrem Gatten verstoßen wird, weil dieser erfährt, dass der etwa neunjährige Sohn, nicht sein leibliches Kind, sondern die Folge einer Vergewaltigung ist. Diese zweite Zerstörung ihres Glücks nimmt Katalin aber nicht hin und zieht mit Sohn Orban im Pferdewagen durch die waldreichen und nebelverhangenen Karpaten, um die Vergewaltiger aufzuspüren und sich zu rächen.

Brutal tötet sie den ersten mit einem mit Steinen gefüllten Strumpf, während sie sich dem zweiten zu erkennen gibt und in Gegenwart seiner Frau detailreich von ihrer Vergewaltigung erzählt. Umbringen wird sie ihn nicht, denn mit der Schuld – und nicht nur mit der damaligen, sondern auch mit den Kreisen, die sie in der Gegenwart zieht - leben zu müssen, wird für ihn schlimmer sein. Und auch für Katalin gibt es keine Erlösung, vielmehr führt ihre Rache am ersten Vergewaltiger zu einer Vergeltungsaktion des Bruders.

Das Spielfilmdebüt des in England geborenen Peter Strickland ist ein archaisches und in vielen Momenten absichtlich hölzernes Rachedrama. Zwischen statischen Szenen und solchen, in denen die Handkamera im Stil der belgischen Dardenne-Brüder hautnah der Protagonistin folgt, wechselnd und untermalt mit unheilschwangerer, die Ausweglosigkeit betonender Musik, entwickelt sich ein roher, der Zeit enthobener und in einer geradezu mythischen Landschaft spielender Film, der seine biblisch-religiösen Züge mit direktem Bezug auf die zehn Gebote explizit nach außen kehrt. – Kein Film, den man mögen muss oder kann, aber zumindest einer, der sich in kein Schema einordnen lässt.

Um das Wirken von Zeit, um Vergangenheit und Gegenwart und politische Geschichte ging es immer schon in den Filmen des Griechen Theo Angelopoulos. Und die Zeit wurde dabei immer schon gewissermaßen in den endlos langen grandiosen Plansequenzen verhandelt. So kann es kaum verwundern, dass es auch im zweiten Teil einer Trilogie, die mit "Die Erde weint" eröffnet wurde, um diese Themen geht.

Nichts weniger als die europäische – und auch die US-amerikanische – Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht in "The Dust of Time" zur Diskussion. Ausgehend von einem Film, den ein nur A. genannter Regisseur in der römischen Cinecitta über seine Eltern Spyros und Eleni dreht, rollt Angelopoulos in Rückblenden ihre Geschichte ab etwa 1950 auf.

Von Filmszenen, die A. über Elenis Verbannung nach Sibirien Anfang der 1950er Jahre und Spyros Flucht nach Amerika gedreht hat, geht der Film über zum Berlin-Besuch des alten Ehepaars an Silvester 1999, wobei die Ankunft wieder eine Rückblende zur Ausbürgerung Elenis aus der Sowjetunion 1974 oder zur Reise von den USA nach Toronto, wohin der Sohn übersiedelte, um einer Einberufung in den Vietnamkrieg zu entgehen, auslöst.

So großartig aber auch der Entwurf ist und so meisterhaft Angelopoulos die Verschachtelung der Zeitebenen beherrscht – kein anderer Film der Berlinale ist auch nur annähernd so kühn und filmsprachlich elaboriert -, so sehr scheint "The Dust of Time" auch an seinem überzogenen Anspruch zu scheitern. Denn in der Fülle der historischen Ereignisse tendiert Angelopoulos zu einem "Name-Dropping", ohne die einzelnen Geschehnisse zu vertiefen. Die Entstalinisierung, der Vietnam-Krieg und sogar Richard Nixon werden ebenso erwähnt wie der Fall der Mauer, aber eben nur erwähnt und dann auch schon wieder ad acta gelegt.

Die Handlungsfülle steht deutlich im Widerspruch zur betont langsamen Erzählweise des Griechen. Kurzatmig wirkt "The Dust of Time" geradezu und statt der großen Totalen, die die früheren Filme von Angelopoulos dominierten, gibt es hier viel mehr Großaufnahmen und kurze Einstellungen.

Grandiose Tableaux gelingen dem Griechen freilich auch hier, speziell in Massenszenen, immer noch, wenn beispielsweise schweigend die Menge nach der Nachricht vom Tod Stalins den Platz verlässt oder die Ausgebürgerten mit ihren Koffern wortlos im Nebel die ungarisch-österreichische Grenze überqueren.

Doch solche Plansequenzen bleiben eben Einzelstücke, wie auch die Weltgeschichte hier kaum mehr Thema an sich ist, sondern nur noch Aufhänger für die private Geschichte von Spyros (Michel Piccoli), Eleni (Irene Jacob) und dem deutschen Juden Jakob (Bruno Ganz), der mit Eleni im sowjetischen Lager war.

Wie sich in diesem Film der vielen losen Ende und nicht zu Ende entwickelten Handlungsfäden, der am Anfang stehende von A. gedrehte Film im Laufe der 125 Minuten im Nichts verliert, verlieren sich und verblassen angesichts der sich in den Vordergrund drängenden privaten Geschichte auch die weltgeschichtlichen Bezüge.