Locarno 2013: Wer holt den Leoparden?

Höchst disparat präsentierte sich der Wettbewerb des 66. Filmfestivals von Locarno. Doch nicht nur aufgrund der Tatsache, dass nach 18 von 20 Wettbewerbsfilmen kein klarer Favorit auszumachen ist, sondern auch aufgrund der Zusammensetzung der Jury könnte es bei der Entscheidung über die Preise intensive Diskussionen geben.

Wenn es nach dem Publikum ginge, wäre dem amerikanischen Film "Short Term 12" wohl ein Hauptpreis sicher. Da aber in der Jury neben dem Schweizer Filmexperten Matthias Brunner, der französischen Regisseurin und Schauspielerin Valérie Donzelli und dem chilenischen Produzenten Juan de Dios Larrain mit dem Philippino Lav Diaz als Jurypräsidenten und dem Griechen Yorgos Lanthimos zwei Regisseure sitzen, die selbst für sehr sperrige Filme bekannt sind, könnte durchaus auch Cornelio Porumboius "When Evening Falls on Bucarest or Metabolism", Joaquin Pintos "E Agora? Lambre-me" oder Albert Serras "Historia de la meva mort - History of My Death" den einen oder anderen Preis gewinnen. - Völlig offen scheint das Rennen, ein Kompromisskandidat könnte Yves Yersins Dokumentarfilm "Tableau noir" sein.

Einige starke – und auch konsumierbare – Werke gab es aber neben Yersins Film sowie "Short Term 12" durchaus zu entdecken.

Die Britin Joanna Hogg präsentierte sich beispielsweise auch mit ihrem dritten Spielfilm als Stilistin. In "Exhibition" erzählt sie von einem Künstler-Ehepaar, das nach 20 Jahren sein Stadthaus verkaufen will. Vor allem die Frau kann sich mit der anstehenden Trennung vom Haus nicht anfreunden, kann nicht loslassen und scheint sich vor jedem Verlassen des Hauses zu ängstigen. Keine wirklichen Spannungen gibt es im Zusammenleben des Paares und doch deckt Hogg eine gewisse Entfremdung und das Bedürfnis der Frau auf, vom Mann stärker wahrgenommen und geliebt zu werden.

Passend zum funktionalen, von großen Fensterflächen bestimmten Haus ist das kühl und distanziert inszeniert. Reizvoll und gekonnt spielt Hogg mit dem Innen und Außen, macht die Durchlässigkeit durch die Fensterflächen und den ins Haus dringenden Verkehrslärm spürbar, zieht andererseits aber auch durch Vorhänge und Jalousien eine Grenze zwischen den leicht sterilen weißen Räume auf der einen Seite und der wuchernden Natur auf der anderen. Schattenhaft wirken hier auch immer wieder die Figuren, wenn sie sich in den Fenstern spiegeln. Weil so das Haus die dritte Hauptrolle spielt, verwundert es auch kaum, dass Hogg ihren Film dem Architekten James Melvin gewidmet hat. Er hat das Haus, in dem der Film spielt und gedreht wurde, in den 1960er Jahren geplant und selbst viele Jahre darin gelebt.

Der Franzose Guillaume Brac hat dagegen seinem ersten langen Spielfilm gleich den Titel der burgundischen Kleinstadt "Tonnere" gegeben. Hierher ist der etwa 35-jährige Rockmusiker Maxime zurückgekehrt und lebt – zumindest vorübergehend – bei seinem Vater. Als ihn die gut zehn Jahre jüngere Melodie für eine Lokalzeitung interviewt, entwickelt sich bald eine leidenschaftliche Affäre. Doch plötzlich meldet sich die junge Frau nicht mehr, kehrt zu ihrem früheren Freund Ivan zurück, was Maxime nicht verkraftet.

Ganz im Alltag und im winterlichen Burgund verankert, in kalte Farben getaucht, authentisch in Wohnungen, Kleidung und unverbrauchten Schauspielern entwickelt Brac unaufgeregt, aber sehr stimmig und atmosphärisch dicht seine Geschichte. Im Gedächtnis bleiben diese Charaktere, weil sie und ihre Probleme dem Leben abgeschaut sind und nicht nach Drehbuchmustern gestaltet sind. Schwer tun kann man sich freilich mit der heftigen Reaktion Maximes, die eine Wendung ins Thrillerhafte bringt, ehe dann überraschend und abrupt eine versöhnliche Schlusswendung folgt.

Eine Wohltat waren solche eingängigen Filme neben Albert Serras "Historia de la meva mort – History of My Death“. Schon die Pre-Title-Sequenz, in der man einer Gesellschaft in Gewändern des 18. Jahrhunderts minutenlang in einer statischen Einstellung beim Essen zusieht, stimmt auf das Erzähltempo der folgenden 148 Minuten ein.

Erst spät wird man erfahren, dass es sich bei dem vornehmen Herrn, der in der ersten Hälfte Kirchenkritik übt, von der bevorstehenden Revolution spricht und aus Voltaire zitiert, aber auch minutenlang in einen Nachtopf scheißt, um Casanova handelt.

Auf diesen laut Insert in der Schweiz spielenden Teil, wird man mit abruptem Schnitt und wiederum einem Insert in die Karpaten versetzt, wo Casanova bald mit Dracula konfrontiert wird. Dem Aufbruch in die Rationalität, der am Beginn im Zentrum steht, wird damit ein Rückfall in tiefsten Aberglauben und das Archaische gegenübergestellt.

Spielen die ersten Szenen im höfischen Milieu, so versetzt dieser zweite Teil in ein bäuerliches Umfeld und minutenlang kann man zusehen, wie einer Kuh das Fell abgezogen oder ihr Schädel zerteilt wird.

Wunderbar ausgeleuchtet sind zwar die Tableaus, erfreuen kann man sich am Lichteinfall in den Landschaftsaufnahmen, doch angesichts der Langsamkeit der Erzählweise und vielleicht auch der Dürftigkeit des Inhalts ziehen sich die zweieinhalb Stunden wie selten im Kino. - Preischancen kann man Serras Film bei dieser Jury aber sicher auch einräumen.