Locarno 2013: Achterbahnfahrt

Über mangelnde Vielfalt kann man im Wettbewerb des 66. Filmfestivals von Locarno bislang nicht klagen. Claire Simons Ensemblefilm "Gare du Nord" steht da neben Joaquin Pintos sehr persönlichem Essayfilm "E agora? Lembra-me", zu überzeugen vermochte aber vor allem der Westschweizer Yves Yersin, der in seinem Dokumentarfilm "Tableau noir" ein Schuljahr lang den Alltag in einer einklassigen Grundschule im Neuenburger Jura schildert.

Wunderbar ist der Beginn von Claire Simons "Gare du Nord", wenn die französische Regisseurin ausgehend von einem Soziologiestudenten, der im titelgebenden Pariser Bahnhof eine Umfrage durchführt, im Stil von Robert Altmans "Nashville" erfundene Figuren und ihre Geschichten mit (scheinbar?) dokumentarischen Beobachtungen verbindet.

Einen starken Eindruck von diesem multikulturellen Ort vermittelt Simon, wenn sie von den jungen Afrikanern, die hier herumhängen, zum nepalesischen Süßigkeitenverkäufer wechselt, an einem vietnamesischen Restaurant vorbeistreift und zeigt, wie die Polizei eingreifen muss, als ein offensichtlich psychisch kranker Mann in einem Dessous-Geschäft randaliert.

Verflochten sind diese Alltagsbeobachtungen mit der Geschichte des Studenten, der eine Liebesbeziehung zu einer deutlich älteren Uniprofessorin aufbaut, einer immer rot gekleideten Geschäftsfrau oder einem Mann, der seine seit Wochen vermisste Tochter sucht.

Doch so überzeugend diese Exposition mit ihrer Offenheit, den Andeutungen, bei denen auf ein Ausformulieren verzichtet wird, auch ist, so sehr franst der Film mit Fortdauer aus und verliert sich in Beliebigkeit. Zunehmend lässt auch das Interesse an den Figuren nach, denn nie erfährt man mehr über sie. Statt dass sie Konturen gewännen und einem vertrauter würden, werden sie einem gleichgültiger.

In die Breite geht der Portugiese Joaquin Pinto in "E agora? Lambre-me" zwar in seinen Gedanken, verankert ist dieser Essayfilm aber ganz in der Person des Regisseurs. Pinto, der seit 20 Jahren an HIV und Hepatitis C leidet, nimmt seine Behandlung mit noch nicht anerkannten Medikamenten zum Anlass, um sehr persönlich und radikal subjektiv in einem assoziativen Strom von Gedanken und Bildern über seine Krankheit und sein Leben, aber auch über die Krisen der Welt zu reflektieren.

Ein ausladender, an Denkanstößen reicher Film ist so entstanden, kunstvoll in der Musikmontage, in der Einbettung von Found Footage und aktuellen TV-Nachrichten. Manchmal sind das permanente Voice-over des gelernten Toningenieurs, der mit zahlreichen Filmregisseuren wie Werner Schroeter oder André Techiné gearbeitet hat, und das beliebige Wechseln zwischen den Ebenen freilich auch ermüdend. Sicherlich nicht geschadet hätte es auch, aus dem mit 164 Minuten überlangen Film die eine oder andere der zahlreichen Szenen vom vertrauten Umgang Pintos und seines Lebenspartners mit ihren Hunden herauszuschneiden.

Auf ein Thema konzentriert hat sich dagegen Yves Yersin. 1973 hat der 1942 geborene Westschweizer mit "Die letzten Heimposamenter" einen vielbeachteten Dokumentarfilm geschaffen, 1979 mit "Les petites fugues"“ einen Klassiker des Neuen Schweizer Spielfilms. 1982 folgte noch ein Kurzfilm, doch danach unterrichtete Yersin nur noch. Wenn er nun nach 30 Jahren Pause als 70-Jähriger wieder ein Projekt realisiert hat, muss es sich dabei um eine Herzensangelegenheit handeln.

In "Tableau noir" macht Yersin nicht mehr und nicht weniger als ein Schuljahr in einer einklassigen Grundschule im Neuenburger Jura in begleitender Beobachtung zu dokumentieren. Auf Kommentar wird verzichtet, gegliedert wird der Film durch Inserts wie "Weiß", "Tinte", "Purpur", "Gras" oder "Himmelblau" und mehrere melancholische englische Songs setzen Pausen. Ganz auf den Schulalltag – der in diesem Fall eben nicht so alltäglich ist – konzentriert sich Yersin, begleitet den Lehrer Gilbert Hirschi, der im 41. Dienstjahr steht, und seine 13 sechs bis zwölfjährigen SchülerInnen bei ihrer Arbeit.

Sensationell ist dabei zunächst einmal, wie natürlich nicht nur der Lehrer, sondern auch die SchülerInnen agieren, die Präsenz der Kamera scheinbar komplett ignorieren. Von selbst kommt das freilich nicht, sondern ein großes Vertrauensverhältnis zu den kleinen ProtagonistInnen musste Yersin hier sicher zunächst aufbauen und sie an die Kamera gewöhnen.

Im Gegensatz zu Nicolas Philiberts Schulfilm "Être et avoir" erfährt man bei Yersin nichts über die Lebenssituation des Lehrers, und auch fast nichts über die sozialen Verhältnisse und Familien der SchülerInnen. Anders als der Franzose versucht Yersin auch nicht so sehr durch geduldigen Blick Einsicht in den Prozess des Lernens zu bieten, als vielmehr einen Eindruck zu vermitteln, wie viel Verschiedenes die Kinder in dieser Schule – oder wohl doch vor allem: unter diesem Lehrer - in spielerischer Art und vielfach aus dem Alltag lernen.

Der Bogen des Films spannt sich vom Schulbeginn, bei dem die "alten" SchülerInnen die neuen mit einem Lied begrüßen, bis zum Ende des Schuljahrs, mit dem auch die Schule geschlossen wird. Dass diese Schließung droht, erfährt man eher beiläufig, wenn der Lehrer, der die SchülerInnen mit seinem Kleinbus bei den Eltern abholt, in Begegnungen mit Dorfbewohnern darauf angesprochen wird. Dringlicher wird dieses Problem erst mit Fortschreiten des Schuljahrs, doch ein Referendum der Eltern scheitert knapp. Am Ende steht die Verabschiedung des Lehrers in einer zutiefst bewegenden Feier, die nicht nur die Eltern und die Kinder zu Tränen rühren kann.

Eindringlich bewusst macht Yersins Film, was mit dieser Schließung verloren geht. Denn zwei Stunden lang konnte man zusehen, wie Lernen ablaufen kann, wie man die Zahl Pi aus dem Alltag heraus erklären und auch Trigonometrie schon GrundschülerInnen nahebringen kann, wie nicht gepaukt wird, sondern entdeckend und spielerisch in Musik und Malerei eingeführt wird, man einen Einblick ins Töpfern, in Käse- und Butterproduktion gewinnen kann, aber auch mit verschiedenen Kräutern und Methoden der Konservierung jenseits von Tiefkühlschrank vertraut gemacht wird.

Unaufgeregt reiht Yersin Szene an Szene, will weniger Porträts der SchülerInnen und des Lehrers zeichnen, als vielmehr allein mit der Schilderung des Schulalltags eine Lanze für eine andere Art von Schule brechen. Das ist im Verzicht auf jede Verdichtung vielleicht etwas lang geraten, hat aber nun durch die Schließung der Schule bleibenden Wert, um zumindest filmisch zu bewahren, was in Realität wohl für immer vernichtet wurde.