Locarno 2013: "Feuchtgebiete" und ein erster "Leoparden"-Kandidat

Mit Spannung wurde die Welturaufführung der Verfilmung von Charlotte Roches Bestseller "Feuchtgebiete" erwartet, doch der Skandal blieb aus. Während bei dieser poppigen Coming-of-Age-Geschichte vor allem Hauptdarstellerin Carla Juri preisverdächtig ist, hinterließ im Rennen um den Goldenen Leoparden "Short Term 12" des Amerikaners Destin Cretton bislang den stärksten Eindruck.

Schon mit der Eröffnungsszene schlägt David Wnendt bei seiner Verfilmung von Charlotte Roches Skandalroman "Feuchtgebiete" den Erzählton an, der die folgenden knapp zwei Stunden bestimmen wird: Mit der Protagonistin Helen steigt der Film nach einer Skateboardfahrt während der sie über ihre Hämorrhoiden erzählt, sogleich in eine verdreckte öffentliche Toilette, wo sich der Teenager lustvoll auf die verschmutzte Klobrille setzt. Aus Protest gegenüber ihrer auf Hygiene bedachten Mutter schwärmt Helen fürs Unhygienische, für Körpersäfte, Sex mit Gemüse oder den Austausch benutzter Tampons.

Verbal nimmt sich der Film kein Blatt vor den Mund, will mit Fäkalhumor und unappetitlichen Szenen schocken, bleibt auf der visuellen Ebene im Vergleich dazu aber gerade zurückhaltend. Wnendt weiß genau, was er dem Zuschauer zumuten darf, ohne ihn wirklich zu verstören, spielt mit der Provokation, überschreitet aber nie gewisse Grenzen, auch nicht in ein paar bissigen Kommentaren zum Katholizismus, der laut Helen "bizarrsten von allen Religionen".

Das provokante Verhalten Helens ist aber nicht Selbstzweck, sondern resultiert aus ihrer unglücklichen Kindheit und dem Wunsch die geschiedenen Eltern wieder zusammen zu führen. Hautnah ist Wnendt an seiner Protagonistin dran, bietet mit ihrem Voice-over Einblick in ihr Leben und ihre Psyche. Mit einer Analfissur im Krankenhaus liegend, erinnert sie sich an traumatische Kindheitserlebnisse, an ihre Liebe zu Körpersäften und Sex sowie an ein Drogenabenteuer.

In poppigen Farben, mit viel Rockmusik oder auch dem Donauwalzer als auf Kubricks "2001" anspielende Untermalung einer Szene, in der Sperma auf eine Pizza klatscht, sowie mit expressiver Bildsprache und visuellen Spielereien wie Splitscreen, Inserts und Standfotos erzeugt der 36jährige Deutsche wie schon in seinem Debüt "Kriegerin" ein hohes Tempo.

Zusammengehalten und auch getragen wird diese Coming-of-Age-Geschichte aber von einer grandiosen Carla Juri in der Hauptrolle. Mit vollem Körpereinsatz und großer Offenheit spielt sie diese Helen und schafft es, die Verletzlichkeit und Verletztheit der zunächst doch unsympathischen Figur eindringlich zu vermitteln, sodass man Mitgefühl mit ihr entwickelt und am Ende hofft, dass ihr der Sprung in ein glückliches Erwachsenenleben glückt.

Im Gegensatz zu diesem energiegeladenen, aber auch sehr effektbetonten und schrillen Film schlägt Destin Cretton in seinem Wettbewerbsbeitrag leisere Töne an. Mit den Augen der gut 20-jährigen Grace lässt der Kalifornier den Zuschauer in "Short Term 12" auf das Leben und die Probleme im titelgebenden Auffanglager für vernachlässigte Jugendliche blicken.

Schnelle Schnitte und eine nah geführte Kamera lassen von Anfang an unmittelbar am Geschehen Anteil nehmen. Unverstellt ist der Blick, authentisch wirkt die Schilderung auch aufgrund der hervorragenden unverbrauchten jungen Schauspieler.

Geschickt baut Cretton ein immer dichteres Netz von Beziehungen und Problemen auf, konfrontiert mit der Aufnahme der 15jährigen Jayden auch die inzwischen schwangere Grace mit ihrer eigenen verdrängten traumatischen Kindheit. In vielleicht schon allzu genau getimtem Rhythmus wechseln dabei dramatische Szenen wie Flucht- oder auch ein Selbstmordversuch mit glücklichen Momenten.

Eindringlich und ganz ohne erhobenen Zeigefinger, sondern allein durch sorgfältiges Erzählen arbeitet Cretton dabei in seiner differenzierten Schilderung und seiner runden Inszenierung heraus, welche Schäden in der Kindheit angerichtet werden können, zeigt aber auch auf, dass diese überwunden werden können.

So hoffnungsvoll "Short Term 12" dabei auch endet, so schimmert doch durch, dass dieses Ende keine Selbstverständlichkeit ist und auch ein anderer Ausgang möglich wäre. – Ein starker unabhängiger amerikanischer Film, der etwas zu erzählen hat und diese Aufgabe auch formal bravourös meistert und den Zuschauer ein bisschen glücklicher und mit dem Glauben an die Kraft des Kinos entlässt.