67. Filmfestival Locarno: Zu scharfes Profil?

Ein noch klareres Profil als bisher zeigte das Tessiner Filmfestival im zweiten Jahr unter der Leitung von Carlo Chatrian: Künstlerisch innovative Filme weit abseits des Mainstreams bestimmten den Wettbewerb, eingängig erzählte menschliche Geschichten das Piazza-Programm und in der "Semaine de la critique" konnte man wieder aufregende Dokumentarfilme entdecken.

Jedes Filmfestival hat sein Profil: Cannes klotzt mit großen Namen des Weltkinos, Venedig gilt als Hort des Autorenfilms, Berlin versucht sich – zum Teil wohl auch nolens volens, weil man nehmen muss, was man bekommt - mit einem Mix aus Newcomern und renommierten Regisseuren.

Locarno setzte bis vor einigen Jahren im Wettbewerb ganz auf junge Regisseure und zeigte fast nur erste und zweite Spielfilme. Diese Newcomer stellen immer noch einen beträchtlichen Teil der Wettbewerbsfilme dar, doch der Fokus liegt bei der Auswahl der Filme nicht mehr auf Alter und Werkumfang der Regisseure, sondern wesentlich stärker auf ihrer Filmsprache. Fand man vor zehn Jahren noch zahlreiche klassisch erzählte und teilweise auch bieder inszenierte Filme im Wettbewerb, so gibt inzwischen oft sperriges Kunstkino den Ton an.

Die Trendwende zeigt sich auch bei den Preisträgern. Denn holten sich bis 2006 (Andrea Stakas "Das Fräulein") meist noch leicht zugängliche Filme den Goldenen Leoparden, so wurden seither, von "She, A Chinese" (2009) einmal abgesehen, ausnahmslos filmsprachlich radikale Werke mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Über Publikumsandrang kann sich das Festival selbst bei solch schwierigen Filmen nicht beklagen, der Exodus während der Vorführungen ist freilich teilweise enorm und Chancen auf eine Kinoauswertung haben diese Filme trotz ihres "Leoparden" kaum.

So begrüßenswert ein klares Profil ist, so erfreulich ein paar innovative Filme im Wettbewerb sind, so stellt sich doch die Frage, ob das Festivalpublikum diesem starken Kurs in Richtung Hardcore-Arthaus-Film auf Dauer folgen wird. Zahlreiche großartige Momente gibt es zwar im heurigen Siegerfilm "Mula sa kung ano ang noon" ("From What is Before"), fordert aber die Geduld des Zuschauers mit seinen fünfeinhalb Stunden Länge ebenso wie der fragmentarische "Ventos de Agosto" oder Paul Vechialis sehr statische und theatralische, bewusst künstliche, aber hohle Dostojewski-Adaption "Nuits blanches sur la jetée".

Andrea Stakas überambitionierter "Cure - The Life of Another" und Fernand Melgars Dokumentarfilm "L´abri" werden zwar zumindest in der Schweiz in die Kinos kommen, sich aber dort schwer tun. Davon abgesehen haben wohl nur das packende russische Sozialdrama "Durak" und der US-Independentfilm "Listen Up Philip" Chancen einen Verleih zu finden, die übrigen 13 Wettbewerbsfilmen wird man wohl nur noch auf anderen Festivals, im Fernsehen oder auf DVD sehen. – Kein Plädoyer für den Kommerzfilm soll das sein, aber hinterfragt werden muss schon, ob eine solche Häufung äußerst sperriger Filme, die ein neuntägiges Festival zu einer teilweise sehr anstrengenden Angelegenheit machen, wirklich nötig ist.

Ausgleich zu diesem Tagesprogramm boten freilich die Abendvorstellungen auf der grandiosen Piazza Grande. Ganz großes Kino war da zwar Mangelware, aber neben den herausragenden "Marie Heurtin" und Olivier Assayas´"Clouds of Sils Maria", wurde doch ein durchaus ansprechendes Programm geboten, in dem sich nur mit "À la vie", in dem Jean-Jacques Zilbermann auf lockere Weise von drei Freundinnen erzählen will, die Auschwitz überlebt haben, und Jasmila Zbanic´ zwar knallbunter, aber nur punktuell witziger Sommerkomödie "Love Island" zwei Enttäuschungen fanden.

Ein sicherer Hafen für den Zuschauer ist in Locarno auch immer die "Semaine de la critique", in der sieben von Mitgliedern des Verbands der Schweizer FilmjournalistInnen ausgewählte Dokumentarfilme gezeigt werden. Inhaltlich wie formal gewohnt bunt und dementsprechend interessant war die Mischung.

Dramaturgisch geschickt aufgebaut, allerdings auch sehr auf Interviews vertrauend erzählt Marcel Gisler in "Electroboy" die Lebensgeschichte des Schweizer Models und Party-Event-Veranstalters Florian Burkhardt. Problematisch wird der Film freilich, wenn Gisler gegen Ende ausführlich die Familiengeschichte auf die Leinwand bringt und sehr Privates damit öffentlich macht.

Visuell und akustisch aufregend porträtiert Zuzanna Solakiewicz in "15 Corners of the World" den polnischen Komponisten Eugeniusz Rudnik und versucht Bilder zu seiner elektronischen Musik zu finden. Neasa Ni Chianáin wiederum spürt in "The Stranger" in einer fein abgestimmten und rund fließenden Mischung aus herb-poetischen Landschaftsaufnahmen der irischen Insel Inishbofin, Interviews, Tagebuchaufzeichnungen und Archivfotos den Spuren Neal McGregors nach, der sich in den 80er Jahren von der Welt zurückzog und jahrelang bis zu seinem Tod 1990 als Einsiedler auf Inishbofin lebte.

Gegenpol zu diesem sehr stillen und persönlichen Film stellt "Broken Land" dar, in dem Stéphanie Barbey und Luc Peter auf das Leben an der US-amerikanischen Seite des berüchtigten Grenzwalls zu Mexiko blicken und einen Rancher ebenso wie einen Grenzbeamten oder rassistische Vertreter der Bürgerwehr zu Wort kommen lassen. Eindrücklich machen die Regisseure deutlich, dass der Wall den Bewohnern der Grenzregion keine Sicherheit gebracht hat, sondern vielmehr erst Ängste geschürt und sie eingeengt hat. – Es sind neben der Piazza auch solche Nebenreihen wie die "Semaine de la critique" oder die Retrospektive, die heuer mit dem "Titanus"-Studio zwar vielleicht nicht so attraktiv war wie in den letzten Jahren, aber doch einige Perlen des italienischen Kinos präsentierte, die eine willkommene Abwechslung zum fordernden Wettbewerb bringen.