67. Filmfestival Locarno: 338 Minuten schweigen oder 70 Minuten reden?

Gegenpol zu Luc Bessons rasantem 85-minütigen Eröffnungsfilm "Lucy" ist Lav Diaz´ 338-minütiger "Mula sa kung ano ang noon", mit dem der Wettbewerb um den Goldenen Leoparden gestartet wurde. Dass aber auch ein nur 70-minütiger Film sehr anstrengend sein kann, zeigte sich bei "La princesa de Francia" des Argentiniers Matías Piñeiro.

Bekannt sind die Filme des Philippinos Lav Diaz für ihre Länge. Mit fünfeinhalb Stunden eher kurz ist für seine Verhältnisse sein neuester Film "Mula sa kung ano ang noon" ("From What Is Before"), viel Geduld wird hier vom Zuschauer dennoch verlangt.

Wie in den meisten seiner Filme taucht Diaz auch hier in die Geschichte seines Heimatlandes ein und ein einleitender Kommentar – spricht hier der Regisseur selbst? – betont, dass sich der Film an wahren Ereignissen und Personen orientiere. Am Ende schließt sich der Kreis zu dieser Eröffnung, wenn wieder eine Stimme aus dem Off betont, dass dies seine Erinnerung an die Geschichte seines Landes und die große Sintflut sei.

Das Gefühl einer Sintflut vermittelt Diaz auch während der dazwischen liegenden gut fünfeinhalb Stunden mit immer wieder niederprasselndem Regen. Auf die Philippinen der frühen 1970er Jahre wird man versetzt, ausführlich wird zunächst in langen statischen Totalen und Halbtotalen das alltägliche Leben in einem abgeschiedenen Dorf geschildert: Man sieht Frauen auf einem Reisfeld, ein Rind an einem Fluss oder ein Junge – ist er das Alter Ego des damals 12-jährigen Regisseurs? -, der eine Bananenstaude über ein Feld trägt.

Geredet wird kaum, auf Musik verzichtet Diaz ganz, vertraut allein auf Naturgeräusche wie den prasselnden Regen, das Gackern der Hühner, den pfeifenden Wind oder die ans felsige Ufer schlagende Brandung. Manchmal verschwinden die Menschen in den perfekt komponierten und ungemein tiefenscharfen Schwarzweißbildern fast ganz in dieser wuchernden Natur.

Die Raumtiefe betont Diaz noch, indem er viele Szenen, die vielfach nur aus einer einzigen langen Einstellung bestehen, durch Türrahmen filmt, hält damit den Zuschauer gleichzeitig auf Distanz, involviert ihn nicht, sondern macht ihn zum außenstehenden Beobachter.

Eine Geschichte stellt sich erst langsam ein, kristallisieren sich der Kuhhirte Sito, sein Ziehsohn Hakob, ein Weinhändler, Itang und ihre behinderte, aber als Heilerin arbeitende Schwester Joselina, eine Händlerin, die von auswärts kommt und ein Priester als Protagonisten heraus.

Langsam breitet sich eine diffuse Bedrohung im Dorf aus, als Rinder geschlachtet, nachts drei Hütten angezündet werden und ein Toter auf einer Straße gefunden wird. - Die Täter sieht man nie, Diaz, der auch für Drehbuch, Kamera und Produktion verantwortlich zeichnet, konzentriert sich ganz auf die Dorfbewohner.

Die Lage spitzt sich zu, als Soldaten ins Dorf vordringen, von Sicherheit sprechen und doch nur Angst schüren, sodass immer mehr Bewohner das Dorf verlassen, bis der Film mit der Radiorede von Präsident Marcos, in der er am 21. September 1972 die Ausrufung des Kriegsrechts erklärte, endet.

Das ist zweifellos mit großer Konsequenz und Stilwillen inszeniert und auch an großartigen Einstellungen, die sich ins Gedächtnis des Zuschauers einprägen, fehlt es nicht. Durchaus Sinn macht es einzelnen Momenten, wie der Trauer einer Mutter bei ihrem Klagegesang, einer Selbstmordszene und auch anderen Momenten viel Raum und Zeit zu lassen, aber dennoch kann dieses Opus magnum mit seiner unendlich langsamen Erzählweise den Zuschauer im Gegensatz zu ähnlich langen Filmen wie Edgar Reitz´ "Die andere Heimat" oder Claude Lanzmanns "Der Letzte der Ungerechten" keineswegs über die ganze Länge fesseln.

Dass allerdings auch weit kürzere Filme sehr anstrengend sein können, zeigte sich schon beim nur 70-minütigen "La princesa de Francia" von Matías Piñeiro. Die Proben an einem Radiohörspiel von Shakespeares "Verlorene Liebesmüh" dienen dem Argentinier als Anlass um ein Beziehungskarussell um den Regisseur Victor und fünf mit ihm in Beziehung stehende Schauspielerinnen zu entwickeln.

Sind schon die rasend schnellen Dialoge nicht nur anstrengend, sondern sorgen auch dafür, dass der Zuschauer – oder besser Zuhörer oder Leser der Untertitel – rasch den Überblick über die Beziehungen verliert, so versetzt Piñeiro über eine der Protagonistinnen, die eine Diplomarbeit über einen französischen Maler schreibt, die Handlung auch noch mit einer kunstgeschichtlichen Ebene. – Zu hoffen bleibt, dass der Wettbewerb nach diesem mühsamen Auftakt nun langsam in Fahrt kommt.