Olivier Pères überzeugender Mix

Weder das Piazza-Programm noch der Wettbewerb brachten beim 64. Filmfestival von Locarno nur Höhepunkte, doch der Mix, zu dem auch die starke Präsenz von Stars zu zählen ist, stimmte. Locarno ist damit auf dem besten Weg seine Position als das kleinste unter den großen oder auch als das größte unter den kleinen Festivals wieder zu festigen.

Auf das herausragende Meisterwerk wartete man im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden vergebens. Gegen Ende schwächelte das Festival sogar und statt nochmals zuzulegen, brachte der Wettbewerb mit dem israelischen Ehedrama "Tanathur" ebenso einen Tiefpunkt wie auf der Piazza der unsägliche "Sport de filles". Bruno Ganz fasst darin als frustrierter Dessurreit-Trainer zwar neuen Lebensmut, Regisseurin Patricia Mazuy trifft aber nie den richtigen Ton und nervt mit hanebüchener Story und zickigen Frauenfiguren, die sich teils wie pubertierende Teenager verhalten. Auf die Piazza kam dieser Film wohl nur, weil man zur Verleihung eines Ehrenpreises an Ganz auch einen neuen Film mit dem Schweizer Schauspieler zeigen wollte.

Doch von solchen Enttäuschungen abgesehen bot das Piazza-Programm heuer einen durchaus gelungenen Mix. Kleine Genrefilme dominierten am Beginn, mit dem amerikanischen Blockbuster "Cowboys and Aliens" holte Père die Stars Daniel Craig, Harrison Ford und Olivia Wilde ins Tessin, großartiges Kino boten schon in Cannes vorgestellte Filme wie Aki Kaurismäkis wunderbarer "Le Havre" und Nicolas Winding Refns meisterhafter Actionfilm "Drive" und auch Weltpremieren kleinerer Filme fehlten nicht.

Wohl für die zahlreichen deutschen Touristen nahm man "4 Tage im Mai" ins Programm, in dem Achim von Boerris sehr bieder eine Episode vom Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt, das frankophile Publikum erfreute man mit der typisch französischen Liebeskomödie "L´art d´aimer" und fast alle glücklich machte schließlich der Kanadier Philippe Falardeau mit "Bachir Lazhar", der auch den Publikumspreis gewann und zudem mit dem Variety Piazza Grande Award ausgezeichnet wurde.

Mit der Geschichte um einen algerischen Flüchtling, der in einer Grundschule in Quebec nach dem Selbstmord einer Lehrerin eine Vertretungsstelle antritt, gelang Falardeau ein idealer Piazza-Film und ein potentieller Programmkino-Hit der kommenden Monate. Mit seiner runden und sehr feinfühligen Erzählweise, den hervorragenden Schauspielern und der sanften, nie wirklich bohrenden und verstörenden Auseinandersetzung mit Themen wie Migration, Umgang mit Verlust und Trauer kann dieser Film durchaus ein großes Publikum ansprechen.

Aufgepeppt wurde das Piazza-Programm noch durch den Besuch zahlreicher Stars, die Glamour an den Lago Maggiore brachten. Neben den schon genannten gehörten Isabelle Huppert und Gérard Depardieu ebenso dazu wie Claudia Cardinale und Abel Ferrara, der zum Leidwesen des Publikums auf der Bühne zur Gitarre griff weder durch Buhrufe noch durch das Abschalten des Tons, sondern erst durch das Eingreifen des Festivaldirektors gestoppt werden konnte. Bedenklich scheint freilich, dass fast jeder dieser Stars mit der Verleihung eines Ehrenpreises nach Locarno gelockt werden muss.

Im Wettbewerb wiederum konnte die hohe Latte, die im Vorjahr gesetzt wurde, heuer weitgehend gehalten werden. Rundum beglücken konnte zwar nur Shinji Aoyamas "Tokyo Koen", doch mit "Crulic", "Another Earth", "Vol special" und dem insgesamt doch allzu runden "Terri" gab es erfreulich viele starke Filme.

Dazu kommen noch mehrere Werke mit sehr starken Ansätzen, die aber die Spannung nicht über Spielfilmlänge durchhalten können. Erfreulich groß war jedenfalls der Mut vieler Regisseure zu radikalen Erzählweisen. Unbefriedigt mag man beispielsweise nach einem abrupten Ende Julia Loktevs "The Loneliest Planet" verlassen, wie aber die Amerikanerin eine Stunde lang mit einem Minimum an Handlung Spannung und Erwartung aufbaut, ist doch beeindruckend.

Loktev "erzählt" von einem amerikanisch-mexikanischen Pärchen (Hani Fürstenberg und Gael Garcia Bernal), das sich mit einem einheimischen Führer in Georgien auf eine mehrtägige Wanderung macht. Nach alltäglichen Szenen im Dorf geht es los und ständig ist der Zuschauer in Erwartung, dass etwas passiert. Mal lässt die Kamera das Trio in einer langen Totalen die weite Landschaft durchqueren, dann folgt sie hautnah in Parallelfahrt, wenn sie über Felsblöcke balancieren. Wird einer stürzen? Wie das Pärchen ist der Zuschauer geschockt, als der Führer erklärt, dass das Kraut, das er ihnen gerade gegeben hat, in zwei Stunden tödlich wirke, doch er erklärt diese Aussage gleich darauf zum Scherz.

So geht es etwa eine Stunde dahin, bis ein unbewusster Reflex, der gleich darauf mit einer überlegten Handlung korrigiert wird, die Beziehung zwischen Mann und Frau schwer belastet. Erwarten würde man, dass der Vorfall thematisiert wird, stattdessen zieht sich jeder auf sich zurück, bis man langsam wieder aufeinander zugeht. Wie mehrere Filme im Wettbewerb besticht "The Loneliest Planet" zwar durch seine Konsequenz, lässt im rigorosen Minimalismus und der auf die dramatische Szene folgende Entdramatisierung den Zuschauer aber auch irritiert zurück. – Aus dem Kopf bekommt man diesen Film aber nicht so schnell.