Unmenschlichkeit im neuen Europa

Keine Chance scheint das Individuum gegen das Räderwerk der Bürokratie mit ihren Gesetzen und Verordnungen zu haben. Wiederkehrendes Thema in den Wettbewerbsfilmen beim Filmfestival von Locarno ist die europäische Asylpolitik. Dokumentarisch hält sie Fernand Melgar in "Vol special" fest, in einer fiktiven Story setzen sich Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval in "Low Life" damit auseinander. Die Rumänin Anca Damian erzählt dagegen in "Crulic – drumul spre dinculu" ein reales Schicksal mit den Mitteln eines Animationsfilms erschütternd nach.

Die Liebe sei ein höheres Gesetz als die staatlichen Verordnungen. Gerecht sei es deshalb, dass sie ihren Geliebten, den Afghanen Hussain, vor der Abschiebung schütze, erklärt die Protagonistin von Nicolas Klotz´ und Elisabeth Percevals "Low Life" der sie verhörenden Polizistin. Carmen heißt sie zwar, erinnert in Argumentation und Handeln aber weniger an die Titelfigur von Bizets Oper als vielmehr an die Antigone des Sophokles, auf die im Film auch einmal explizit Bezug genommen wird. Schockierend und unerhört ist es dann geradezu, wenn diese Carmen die Abschiebung von Asylanten mit den Deportationen während der NS-Zeit vergleicht.

Schon in seinem letzten Film "La question humaine" hat Klotz so Ungeheuerliches gewagt, als er Parallelitäten zwischen der technokratischen Sprache heutiger Konzerne und der nationalsozialistischen Sprachregelung aufzeigte. Gerade in diesen kühnen und eindeutigen Stellungnahmen packt "Low Life" aber, regt zum Nachdenken an, während die Künstlichkeit, mit der die Dreiecksgeschichte zwischen Carmen, Charles und Hussain inszeniert ist, den Zuschauer auf Distanz hält. Nicht wirklich aufgehen mag der Mix von theatralisch-poetischer Inszenierung und gesellschaftspolitischem Engagement, sodass man sich doch lange durch den Film kämpfen muss. Erst gegen Ende, wenn in "Low Life" die gesellschaftspolitische Realität befreit vom poetischen Mantel in den Mittelpunkt rückt, wenn mit Überwachungsmechanismen und der "Festung Europa" unmissverständlich abgerechnet wird, packt dieser Film wirklich.

Im Gegensatz zu Klotz/Perceval hält der Westschweizer Fernand Melgar die Schweizer Asyl- und Abschiebepolitik mit dokumentarischen Mitteln fest. Nachdem Melgar in "La Forteresse" den Alltag in einem Schweizer Empfangszentrum für Asylbewerber dokumentiert hatte, filmte er für "Vol special" im Lager von Frambois, in dem abgewiesene Asylbewerber bis zu ihrer Abschiebung gefangen gehalten werden. Wie schon in "La Forteresse" verzichtet Melgar abgesehen von wenigen einleitenden Inserts auf jeden Kommentar, schildert in klassischer Manier des Direct Cinema den Alltag im Lager, lässt Personal und Insassen zu Wort kommen. Mag das Personal noch so freundlich – veranlasst durch die Kamera vielleicht auch freundlicher als im Alltag - mit den Insassen umgehen, so erschüttert der Film dennoch, denn stets ist klar, dass die Ausweisung folgen wird.

Keine Polemik gibt es hier, zurückhaltend und objektiv bleibt Melgar, verzichtet auf emotionale Manipulation des Zuschauers durch den Einsatz filmischer Mittel und lässt Aussagen und Bilder wirken. Wünschen würde man sich allerdings, dass in einem Film mit dem Titel "Vol special" auch die Grausamkeit dieser Praxis der Ausschaffung zumindest im Nachspann mit erklärenden Inserts deutlicher vermittelt würde.

Ein Aufruf zur Menschlichkeit in einem unmenschlichen Europa stellt auch Anca Damians Animationsfilm "Crulic – drumul spre dincolo" dar. Aus dem Jenseits lässt die Rumänin ihren 2008 in einem polnischen Gefängnis gestorbenen Landsmann Crulic sein Leben nacherzählen. Auf Dialog wird verzichtet, der Off-Erzähler ermöglicht ebenso wie die Animationstechnik, in die auch originale Familienfotos einfließen, die 33 Lebensjahre und vor allem das Leiden im Gefängnis in 72 Minuten zusammenzufassen.

Eine in realer Darstellung abgehackte anekdotische Szenenfolge wird durch die Animationstechnik, in der mit wenigen Bildern komplexe Situationen prägnant skizziert werden können, zu einem rund dahin fließenden Film und die Brutalität der Haft wird durch die Poesie der Bilder abgefedert, ohne sie zu verharmlosen. Erträglich macht das einen Film, in dem erschütternd dem Gedanken vom neuen menschlichen Europa ein bürokratisches System gegenübergestellt wird, in dem jede Behörde und jeder Beamte Zuständigkeit und Verantwortung auf den anderen schiebt, aber das Individuum nichts zählt und in ein Räderwerk gerät, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint.