Nancy Graves Project

Nancy Graves (1939 – 1995) gehört zu den bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Bereits 1969 richtete ihr das New Yorker Whitney Museum eine Soloschau ein – als erster lebender Künstlerin unter 35 überhaupt. Zwei Jahre später debütierte sie dann in Europa, in der Neuen Galerie Aachen. Damals hatten Peter und Irene Ludwig damit begonnen, Werke der Amerikanerin zu sammeln. So fanden sich die heute so berühmten Kamele im Kreis der Hyperrealen wieder, der "Medici" von Franz Gertsch oder der "Supermarket Lady" von Duane Hanson.

Es ist dieser Kontext, in dem Nancy Graves von den meisten Betrachtern bis heute wahrgenommen wird. Doch stimmt diese Einschätzung? Graves’ Werk ist von vielfältigen künstlerischen Strömungen und Positionen durchdrungen. Immer wieder setzte sie auch selbst neue Impulse, die in den Arbeiten von Künstlerkollegen ein Echo fanden oder gar prägend waren. Das OEuvre der Künstlerin in seiner Hintergründigkeit zu zeigen, ihre künstlerische Lebensleistung nachzuzeichnen und neu zu bewerten, jenseits des Hyperrealismus – daran haben sich die Kuratoren des Ludwig Forum gemacht. Mit dem "Nancy Graves Project", der ersten umfassenden Retrospektive der Künstlerin, präsentieren sie die – teils erstaunlichen – Ergebnisse ihrer Feldforschung.

So sind auch die Kamelskulpturen nicht einfach nur hyperrealistisch gestaltete Nachbildungen von Kamelen, sondern hochkomplexe, konzeptuelle Artefakte. Sie sind künstlerischer Ausdruck einer tief gehenden Beschäftigung mit Evolutionsgeschichte und Wahrnehmungspsychologie, mit Bewegungsstudien, aber auch mit Techniken und Materialien. Das belegen zahlreiche begleitende Skizzenbücher, Archivdokumente und Zeichnungen.

Graves ging den Dingen mit Forscherdrang und Experimentierfreude auf den Grund. Sie entdeckte den Bilderkosmos naturwissenschaftlicher Studien für ihre Kunst und legte bei der künstlerischen Umsetzung Erkenntnisse der Wahrnehmungstheorie zu Grunde. Sie sicherte die Spuren, die sie fand, und ordnete die Entdeckungen, die sie machte. Auf der Suche nach den Ursprüngen und Grundbedingungen der Wahrnehmung von Kunst entwickelte sie ein Werk, das der Praxis der Recherchekunst bereits entsprach, als diese Anfang der 1970er Jahre gerade erst aufkam. Ihre künstlerischen Reflexionen zur Paläontologie und zum Schamanismus wurden daher wegweisende Beiträge zur documenta 5 und 6.

Die mehr als 150 Skulpturen, Installationen, Zeichnungen, Gemälde und Filme der Ausstellung zeigen, wie zielsicher Nancy Graves ihre Kunst durch das Spannungsfeld zwischen aktuellsten künstlerischen Entwicklungsschüben und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen navigierte. Sie beschäftigte sich mit Fossilien und Höhlenmalerei, mit Wetterkarten und Satellitenbildern der Erde, mit Spinnentieren und Mondlandschaften. Dabei streifte sie die Konzeptkunst, die Land Art, die Arte Povera und schließlich auch die Postmoderne.

Das Hauptaugenmerk der Schau liegt auf den Werken, die zwischen 1969 und 1979 entstanden sind. Aber auch die späten Skulpturen spielen eine Rolle, raumgreifende Kombinationen aus farbigem Aluminium, Bronze, Glas, Stahl und Polyurethan oder Direkt-Abgüsse verschiedener Naturalien, die Graves von ihren ausgedehnten Fernreisen mitbrachte.

Eine Besonderheit des "Nancy Graves Project": Die Kuratoren haben "Special Guests" eingeladen. Werke von Zeitgenossen und Wegbegleitern, aber auch von historischen Vorgängern thematisieren Zusammenhänge, sortieren Graves’ Kunst und ermöglichen die Neubewertung ihrer kunsthistorischen Bedeutung. So werden neben Sequenzfotografien von Eadweard Muybridge zum Beispiel Arbeiten von David Smith, Hannah Wilke, Eva Hesse, Paul Thek, Joseph Beuys, Robert Rauschenberg, Trisha Brown, Yvonne Rainer, Anne und Patrick Poirier, Robert Smithson oder Nikolaus Lang gezeigt.

Es erscheint ein umfangreiches Katalogbuch mit Texten von Walter Grasskamp, Joan Simon, Annette Lagler, Brigitte Franzen, Petra Lange-Berndt und Interviews mit Chuck Close und Yvonne Rainer u.a., im Hatje Cantz Verlag, Deutsch/Englisch, ca. 340 S., ca. 400 Abb., 21 x 27 cm, Leinen, EUR 39,80, ISBN 978-3-7757-3695-4.

Nancy Graves Project
13. Oktober 2013 bis 16. Februar 2014