Gabriele Münter – eine bedeutende Protagonistin der deutschen Avantgarde

Wenn das Leopold Museum in Wien als erste Institution in Österreich das Werk von Gabriele Münter (1877–1962) in einer umfassenden Retrospektive für höchst inspirierende Entdeckungen zugänglich macht, kann man sich auch darauf verlassen, dass ein wesentlicher Katalog zur Ausstellung erscheint, der nicht nur sämtliche gezeigte Fotografien, Bilder sowie Texte beinhaltet und die expressionistische Malerin auf ihren Lebensstationen begleitet, die oft mit Stilwechsel oder lebhaftem Interesse an unerprobten Techniken und Sujets zusammenfielen, sondern zudem mit spannenden Essays und Erläuterungen von höchst kompetenten Autor:innen die nachhaltige Beschäftigung mit dieser bedeutenden Künstlerin vertiefen lässt.

Wer die Ausstellung besucht (siehe auch Artikel kultur online) will nämlich noch mehr über diese interessante Frau erfahren und die Bilder, von denen man sich kaum losreißen wollte, daheim in Ruhe weiter betrachten. Gabriele Münters Bekanntheit war vor allem an den Namen von Wassily Kandinsky gekoppelt, mit dem sie eine intensive Lebens- und Arbeitsgemeinschaft verband. Kandinsky war verheiratet, es gab trotzdem eine heimliche Verlobung, und um die Beziehung leben zu können, war das Paar jahrelang auf Reisen: Niederlanden, Tunesien, Dresden, Rapallo, Paris. Münter war eine treffliche Fotografin, und so wird dieser Teil ihres Schaffens in einem eigenen Kapitel behandelt. Auch das Konvolut von 400 USA-Fotos, die bei der Reise als Einundzwanzigjährige mit ihrer Schwester von New York, über Missouri, Arkansas nach Texas entstanden sind. Zu dieser Zeit gewiss sehr außergewöhnlich von den zwei mutigen und weltoffenen jungen Damen!

Man möchte sich verzetteln und wiedergeben, was sie zum Gruppenruhm des Blauen Reiters beigetragen hat; wie sie in ihrem Haus in Murnau ihre umfangreiche Kunstsammlung mit frühen Werken Kandinskys und des Blauen Reiters vor den Nationalsozialisten (am 31.5.1938 wurde das "Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst" erlassen) erfolgreich versteckt hat, um diese anlässlich ihres 80. Geburtstages der Städtischen Galerie im Lenbachhaus als Schenkung zu übergeben, und damit die Wandlung eines recht provinziellem Heimatmuseums in ein Zentrum der Kandinsky-Forschung mit Weltruhm zu ermöglichen …

Der Fokus im Buch liegt natürlich auf der künstlerischen Entwicklung des bildnerischen Werks von Gabriele Münter, mit höchst aufschlussreichen Erläuterungen, die ihre Rolle in der europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts bewertet und einzelne Bilder genauer betrachtet: Ivan Ristić, neben Hans-Peter Wipplinger Herausgeber, schreibt beispielsweise zum Bildnis "Zuhören, 1909", dass die Komik, die dabei offensichtlich wird, keine unfreiwillige wäre, und findet den Hinweis in einer Notiz Gabriele Münters: "Alle drei diskutierten unaufhörlich über Kunst, und im Anfang hatte jeder seine eigene Ansicht und seinen eigenen Stil. Jawlensky war weniger intellektuell oder intelligent als Kandinsky und Klee, und ihre Theorien verwirrten ihn oft. Einmal malte ich ein Portrait, das ich 'Zuhören' nannte und das Jawlensky darstellt, wie er mit einem verdutzten Ausdruck in seinem pausbäckigen Gesicht neuen Kunsttheorien von Kandinsky lauscht."

Gabriele Münter
Katalog zur Ausstellung 20.10.23–18.2.2024
im Leopold Museum, Wien
256 Seiten, Hardcover, 193 Abbildungen
Verlag der Buchhandlung König, Köln
© 2023 Leopold Museum-Privatstiftung
ISBN 978-3-7533-0414-4