Crossing Europe 2011: Kino abseits des Mainstreams

18. April 2011
Bildteil

Der Wettbewerb der achten Auflage von "Crossing Europe", das mit 19000 Eintritten in fünf Tagen einen neuen Besucherrekord verzeichnen konnte, mag nicht ganz das Niveau der letzten Jahre erreicht haben. Das Prädikat "handverlesene Filme" kann man in Linz aber weiterhin für sich beanspruchen, denn statt Euro-Pudding gab es durchwegs Eigenwilliges zu sehen. Dass allerdings mit Lluis Galters "Caracremada" der mit Abstand radikalste Film des Wettbewerbs zusammen mit Pia Marais´ "Im Alter von Ellen" mit dem insgesamt 10.000 Euro dotierten Hauptpreis ausgezeichnet wurde, überraschte aber doch.

Während Pia Marais in "Im Alter von Ellen" von einer Flugbegleiterin erzählt, die aus ihrer geordneten Lebensbahn geworfen wird, steht im Zentrum von Lluis Galters Spielfilmdebüt ein Widerstandskämpfer gegen das Franco-Regime. Zwar beschließt die im französischen Exil sitzende Widerstandsbewegung 1951 den bewaffneten Kampf einzustellen, doch Ramon Vila Capdevila, genannt "Caracremada", lässt sich dadurch nicht davon abhalten in den Wäldern Kataloniens weiterhin Sabotageakte durchzuführen und Hochspannungsmasten zu zerstören.

Was nach einem mehr oder weniger actiongeladenen Widerstandsdrama klingt, verknappt Galter in dem Maße, dass die Leerräume zwischen den Bildern weit größer sind als das, was gezeigt und erzählt wird. Im Kopf muss der Zuschauer die Geschichte rekonstruieren, denn zu sehen bekommt er nichts außer Close-Ups von alltäglichen Handgriffen wie dem Hantieren mit Waffen, dem Sägen am Hochspannungsmast, dem Pflanzen von Kartoffeln.

Unterbrochen werden diese Aktivitäten, bei denen die Beschränkung des Bildausschnitts auf die ausführenden Hände an die Filme Robert Bressons erinnert, durch Bilder der majestätischen Wald- und Wiesenlandschaft im Wechsel der Jahreszeiten sowie der Gesichter des Protagonisten und einer jungen Frau, die sich dem Widerstandskämpfer schließlich anschließt.

Der Zugang zu diesem formal radikalen Film wird auch durch die Reduzierung des Dialogs auf ein Minimum nicht gerade erleichtert. Zeit lässt "Caracremada" so dem Zuschauer in den Bildern zu lesen und zu meditieren, vermittelt in den Wiederholungen etwas vom Monotonen und Zermürbenden des Widerstandskampfs, arbeitet in der extrem fragmentarischen Bildfolge mit Verzicht auf Kausalketten, Erklärungen und Einbettung in einen plastisch gezeichneten gesellschaftlich-historischen Kontext aber auch gezielt gegen jede konventionelle Spannungsdramaturgie.

Weit zugänglicher ist da schon Agnes Kocsis´ "Pal Adrienn", der mit dem mit 3000 Euro dotierten Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Die ungarische Regisseurin erzählt von der übergewichtigen Krankenschwester Piroska, deren Leben von einem monotonen Alltag zwischen Sterbestation, auf der sie arbeitet, Fitnesstraining und Fernsehen in der kleinen Wohnung und immer wieder Essen gekennzeichnet ist.

Bewegung kommt in diese Erstarrung erst, als eine Frau mit dem Namen ihrer – einzigen – Schulfreundin Adrienn Pal in die Klinik eingeliefert wird. Die Namensgleichheit rüttelt Piroska auf und sie beginnt Nachforschungen über den Verbleib ihrer einstigen Schulfreundin anzustellen. Die Erkundungen und Begegnungen lassen sie dabei freilich auch über ihr eigenes Leben reflektieren und werfen allgemeine Fragen nach Lebensentwürfen auf. Ganz auf die von Eva Gabor stoisch gespielte Hauptfigur fokussiert erzählt Kocsis in ihrem teilweise an den argentinischen "Gigante" erinnernden Debüt wunderbar lakonisch und mit feinem Blick für Details und Humor vom Tod im Leben.

Dass "Into Eternity" mit dem European Documentary Award ausgezeichnet wurde, hängt sicherlich auch mit der Aktualität dieses Films zusammen. Der Däne Michael Madsen blickt quasi aus der Zukunft auf ein Atommüll-Endlager in Finnland. Im 20. Jahrhundert wurde mit dem Bau von "Onkalo", was übersetzt "kleine Höhle" heißt, begonnen, im 22. Jahrhundert wird es wohl fertiggestellt sein und muss dann 100.000 Jahre von jedem menschlichen Zugriff ferngehalten werden.

Aber wie wird man diese Gefahr an die Menschen der Zukunft kommunizieren können? Soll man sie vor dem Betreten warnen oder den Ort einfach vergessen? Außerhalb jeder Zeitdimension der menschlichen Geschichte liegt die Strahlungs- und damit Gefahrenzeit dieses Ortes. Und wenn dieser Ort auch für 5000 Tonnen finnischen Atommüll ausreicht, was passiert mit den anderen geschätzten 250000 Tonnen, die sich weltweit inzwischen angesammelt haben?

Beklemmung erzeugt Madsen wenn er in die Tiefen dieser Höhle eintaucht, aus dem Dunkel theatralisch mit angezündetem Streichholz zu den Menschen der Zukunft spricht und den Bildern den Song "Radioactivity" von Kraftwerk unterlegt. Auch an Informationsgehalt fehlt es angesichts zahlreicher Interviews nicht, unterschiedlichste Aspekte werden beleuchtet, dennoch wirkt "Into Iternity" trotz nur 75 Minuten Länge teilweise redundant.

Auch außerhalb des Wettbewerbs bot "Crossing Europe 2011" die Möglichkeit filmische Entdeckungen zu machen. So erzählt die deutsche Isabelle Stevers in "Glückliche Fügung in prägnanter nüchterner Bildsprache und mit knappen, aber sehr treffenden Dialogen überzeugend von einer Frau, die durch eine Beziehung scheinbar aus einer Krise findet, deren Glück aber höchst brüchig ist.

Visuell und auch inhaltlich ganz eigene Wege geht der Grieche Vardis Marinakis, dessen Spielfilmdebüt "Mavro Livadi – Black Field" im von den Türken besetzten Griechenland des 17. Jahrhunderts spielt. Mehr Märchen als historischer Film ist diese in grandiosen teilweise fast monochromen Bildern erzählte Geschichte über die verbotene Liebe zwischen einem verwundeten Janitscharen und einer Nonne, die nicht nur ihr Gelübde bricht, sondern bald ein weiteres - und weit überraschenderes - Geheimnis enthüllt. Wenn hier der Weg aus dem exponiert auf einem Felsen gelegenen düsteren Kloster mit ganz in schwarz gekleideten Nonnen in eine leuchtend grüne Natur führt, dann geht es hier weniger um eine äußere Bewegung als vielmehr um die innere Befreiung und Selbstfindung der Protagonisten.

Dafür, dass neben den eigenwilligen Autorenfilmen auch lustvolle Unterhaltung nicht zu kurz kommt, sorgt bei "Crossing Europe" die von Markus Keuschnigg kuratierte und beim Publikum äußerst beliebte Reihe "Nachtsicht". Dass sich dieser Mix aus ästhetisch innovativen Filmen auf der einen Seite und europäischen Horrorfilmen auf der anderen Seite bestens bewährt hat, bewies heuer unter anderem "Trolljegeren – The Troll Hunter".

Mag die Idee ein vorgeblich gefundenes filmisches Dokument eines schrecklichen Ereignisses zu präsentieren seit "Blair Witch Project" auch ziemlich abgegriffen sein, in "Trolljegeren" funktioniert das Konzept dank der spürbaren Lust des Filmteams während des Drehens, geradlinig-schnörkelloser Erzählweise sowie viel Liebe zu irrwitzigen und immer wieder überraschenden Details dennoch bestens. Wenn Andre Ovredal ein jugendliches Filmteam auf der Suche nach einem illegalen Bärentöter auf einen bärtigen Trolljäger treffen und diesen bei seiner Jagd begleiten lässt, bestechen schon die Figuren mit den naiven Jugendlichen auf der einen Seite und dem mit Hut und Lederjacke wie ein Indiana Jones des Nordens wirkenden Hans auf der anderen. Handfester Horror fehlt dabei nicht, doch diesen versetzt Ovredal souverän mit einer gehörigen Portion Selbstironie, sodass man sich bei diesem kleinen rohen Genrefilm zwei Stunden lang bestens unterhält.