Locarno 2010: Halbzeit am Lago Maggiore

Auf durchaus beachtlichem Niveau präsentiert sich der Wettbewerb des Filmfestivals von Locarno bis zur Halbzeit. Mögen die neuen Filme von Pia Marais und Benedek Fliegauf auch gescheitert sein, über großartige Ansätze und Momente verfügen "Im Alter von Ellen" und "Womb" allemal. Voll zu überzeugen vermochte dagegen die Belgierin Vanja D´Alcntara, die in "Beyond the Steppes" zutiefst bewegend von einer jungen Polin erzählt, die mit ihrem Baby während des Zweiten Weltkriegs in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert wird.

Völlig aus der Bahn geworfen wird Ellen, als ihr zunächst der Freund erklärt, dass eine andere von ihm im dritten Monat schwanger sei, und sie dann auch noch einen nicht näher bestimmten ärztlichen Befund erhält. Wie in Trance bewegt sie sich nun durch die Welt, verrichtet ihren Job als Flugbegleiterin wie ein Automat, verliert diesen nach einer Panikattacke und lässt sich irgendwie durch Zufallsbekanntschaften durch Flughafenlobby und Hotelzimmer treiben.

An die Filme Christian Petzolds erinnert "Im Alter von Ellen" in diesem Auftakt, in denen Pia Marais mit knappen, aber präzisen Szenen, die an von Glas, Beton und Stahl bestimmten öffentlichen Orte spielen, kühl, aber eindringlich eine Atmosphäre des Gespenstischen evoziert, durch die die Orientierungslosigkeit und das Fremdsein im eigenen Leben erfahrbar werden.

Echt und aus persönlichem Erleben entwickelt wirken diese konzentrierten Momente, stehen damit leider aber in deutlichem Kontrast zum Folgenden. Wenn Marais nämlich von der Zustandsbeschreibung übergeht, eine Geschichte zu entwickeln, ihre Protagonistin sich in einer Gruppe Tierschützer einnisten lässt, verliert "Im Alter von Ellen" zunehmend an Glaubwürdigkeit, wird wie die Protagonistin selbst orientierungslos und fahrig.

Visuell durchgängig großartig, bestechend in der Tonkulisse und der Zurücknahme der Dialoge und nicht nur von Eva Green in der Hauptrolle exzellent gespielt ist dagegen Benedek Fliegaufs "Womb". Zum Großteil vor dem eindrucksvollen Hintergrund der rauen und zumeist grauen Nordseeküste von Sylt, die schon Polanski in "Ghost Writer" meisterhaft genützt hat, erzählt Fliegauf von einer Kinderfreundschaft zwischen Rebecca und Tommy, die sich nach 12 Jahren Trennung wiedersehen, um gleich darauf aber durch Tommys Unfalltod schon wieder getrennt zu werden.

Rebecca will das nicht hinnehmen, lässt sich einen Klon von Tommy einpflanzen, der in den folgenden zwanzig Jahren zu einem zweiten Tommy, der Sohn gleichzeitig wie wiedergeborener Geliebter ist, heranwächst. So sehr man die formale Ebene bewundern mag, so wenig tragfähig erweist sich mit zunehmender Dauer das Drehbuch. Die Figuren scheinen hier nur als Funktionsträger um die Frage nach den Folgen von Kloning, sowie die Frage, ob der Mensch auch alles machen darf, was technisch machbar ist, durchzuerzieren.

Kein Rätsel bleibt letztlich bei "Womb", keine Irritation, regt nur die Augen und die Ohren an, aber weder Herz noch Verstand und wirkt wie ein blutleeres Thesenpapier, bei dem die wirklich brennenden Fragen dann doch nicht verdichtet und diskutiert werden.

Wirklich zu Herzen geht dagegen Vanya D´Alcantaras "Beyond the Steppes". Inspiriert vom Schicksal ihrer Großmutter erzählt die Belgierin von der jungen Nina, die nach der Okkupation Polens durch Nazis und Sowjets 1940 mit ihrem kleinen Sohn Anton in ein Arbeitslager in Sibirien deportiert wird.

Auf eine kurze Szene vom Ehe- und Liebesglück in der Wohnung, folgt schon der Marsch durch die weiten Steppen, der Obertag-Kohleabbau im Winter, das Aushebens eines Grabens im Sommer, bis das etwa zweijährige Kind schwer erkrankt und Nina versucht in der nächsten Stadt Medikamente zu holen, aber zu spät zurückkehrt.

Mit Worten kann man die Qualität dieses großen Films über grenzenlose Mutterliebe, über Entbehrungen in Gefangenschaft und über die Schrecken des Krieges, der ohne auch nur eine Kriegsszene auskommt, schwer beschreiben. Denn gerade in der Reduktion, im Verzicht auf breit ausinszenierte dramatische Wendungen sowie in der Zurücknahme von Musik und Dialogen entwickelt "Beyond the Steppes" große Dichte.

Da reicht eine Szene, in der sich die Frauen über eine Flasche Schnaps freuen, um zu spüren, welche Entbehrungen sie durchmachen, der Raureif, vor dem sich nur die dunklen Kleider abheben, vermittelt die Kälte, eine Szene, in der eine erschöpfte Gefangene zurückgelassen wird, die Erbarmungslosigkeit des Lagerlebens. Stärker als ein Schrei in Großaufnahme wirkt hier bei der Nachricht vom Tod des Kindes ein kurzer Moment der Zeitlupe und ein Sprung in die Totale, aus der man Ninas lautloses Zusammenbrechen sieht.

Aufs Wesentliche reduziert ist hier alles und wird dadurch weit über das Individuelle hinaus zur exemplarischen, zeitlosen und universellen Geschichte, die zutiefst bewegt und deren Bilder sich nachdrücklich ins Gedächtnis einprägen. – Zur Halbzeit des Festivals ist "Beyond the Steppes" sicher zu den Favoriten für einen der Preise zu zählen.