64. Berlinale: Goldener Bär für chinesischen Film noir

Die Überraschung ist der vom US-Produzenten James Schamus geleiteten Jury gelungen: Nicht Richard Linklaters von Publikum und Kritik einhellig gefeierte Coming-of-Age-Geschichte "Boyhood", sondern der chinesische Film noir "Black Coal, Thin Ice" wurde mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.

Mit 3,7 Punkten lag "Boyhood" im Kritikerspiegel von Screen um 0,7 Punkte vor dem zweitplatzierten Film "Kreuzweg" und 1,4 Punkte vor "Black Coal, Thin Ice", doch die achtköpfige Jury, der auch Christoph Waltz, die Bond-Produzentin Barbara Broccoli und der Regisseur Michel Gondry angehörten, erklärten Diao Yinans Film noir zum besten Film des Wettbewerbs.

Yinan ist mit "Black Coal, Thin Ice" zweifellos ein visuell starker Film gelungen, Story und Erzählweise sind dagegen sehr konventionell. In einer winterlich kalten chinesischen Stadt verbeißt sich ein dem Alkohol verfallener Polizist in einen Mordfall und verliebt sich im Lauf seiner Ermittlungen auch in eine zwielichtige Frau.

In den weitgehend dunklen Farben, zu denen markante rote, gelbe und grüne Neonlichter an einer Brücke oder einem Nachtclub einen starken Kontrast bilden, entwirft Yinan atmosphärisch dicht das Bild eines tristen China, in dem die Durchschnittsbevölkerung Not leidet, während einige Wenige sich Reichtümer anhäufen. Stark spielt auch Liao Fan, der als bester Darsteller ausgezeichnet wurde, die Figur des gebrochenen Ex-Polizisten, doch können diese Qualitäten nicht darüber hinwegtäuschen, dass man sich diesen Film in anderem geographisch-gesellschaftlichem Umfeld auch in einer "Tatort"-Folge vorstellen könnte.

Der Große Preis der Jury für Wes Andersons vor Erzählfreude sprühenden "The Grand Budapest Hotel" geht durchaus in Ordnung, traurig ist aber, dass Richard Linklater für seinen überragenden "Boyhood" nur den Regiepreis und nicht den Goldenen Bären bekam. Immerhin erhielt Linklater daneben auch den Preis der deutschen Filmkunsttheater sowie den Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost.

Als seltsam darf man auch empfinden, dass Dietrich Brüggemanns "Kreuzweg" mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde, wo doch dieser Film gerade durch seine radikale filmische Inszenierung fasziniert. Wenig überraschend ist dagegen, dass "Kreuzweg" angesichts seiner Thematik auch den Preis der Ökumenischen Jury erhielt.

Gewünscht hätte man Brüggemann freilich auch den Alfred Bauer Preis, der für einen Film vergeben wird, der neue Perspektiven eröffnet. Dieser allerdings ging an "Aimer, boire et chanter", in dem der 91-jährige Alain Resnais vor bewusst künstlichen Kulissen sechs Schauspieler ein Stück von Alan Ayckbourn spielen lässt. Nichts wirklich Neues für Resnais ist das, hat er Ähnliches doch schon mehrmals – und auch schon besser – gemacht. Für seinen vielleicht letzten Film wurde er dennoch auch mit dem Preis der Filmkritiker ausgezeichnet.

Während der österreichische Film "Macondo", in dem Subadeh Mortezai einfühlsam und undramatisch vom Leben eines elfjährigen tschetschenischen Asylanten in Wien erzählt, von den Jurys unbeachtet blieb, wurde das Schweizer Dokudrama "Der Kreis" mit dem schwul-lesbischen Filmpreis "Teddy-Award" ausgezeichnet. Stefan Haupt erzählt darin in einer Mischung von Interviews und Spielszenen anhand der Liebesgeschichte von Ernst Ostertag und Röbi Rapps dicht und bewegend vom Schweizer Schwulenverein "Der Kreis" und den Repressionen in den 1950er Jahren.