64. Berlinale: Von Kindern und Eltern

Geschichten über Kinder und ihre Eltern ziehen sich quer durch den Wettbewerb der 64. Berlinale. Herausragend und großer Bärenfavorit ist dabei Richard Linklaters Langzeitprojekt "Boyhood".

Am Beginn des Festivals stand in "Jack" der Blick auf einen Jungen, der angesichts seiner verantwortungslosen Mutter auf sich selbst gestellt ist. In "Kreuzweg" folgte eine autoritäre, streng religiöse Mutter, die ihrer Tochter keinen Freiraum ließ. Am Rande um das Verhältnis von Vätern zu ihren Söhnen geht es in Hans Petter Molands "Kraftidioten", in dem ein vorbildhafter norwegischer Bürger einen Rachefeldzug startet, als sein Sohn ermordet wird.

Der von Stellan Skarsgard gespielte Rächer hinterlässt in dieser deutlich von dem Coen-Film "Fargo" inspirierten pechschwarzen Komödie in der weiten Schneelandschaft nicht nur Leichen, sondern trifft auch sowohl auf einen in Scheidung lebenden Drogendealer, der sich um seinen kleinen Sohn kümmern muss, als auch auf einen serbischen Gangsterboss, der ebenfalls Rache für seinen getöteten Sohn üben will.

Mit subtileren Mittel als die Mutter in "Kreuzweg" arbeitet der Vater in Celina Murgas "La tercera orilla – Das dritte Ufer des Flusses". Dieser Jorge führt in einer argentinischen Kleinstadt ganz offen ein Doppelleben: Von zwei Frauen hat er Kinder und wechselt ganz selbstverständlich zwischen den beiden Wohnungen und Familien. Jetzt möchte er, dass sein etwa 17-jähriger Sohn Nicolas in seine Fußstapfen tritt, wie er Arzt wird und dann auch die geerbte Ranch übernimmt. Nicolas aber ekelt sein Vater zunehmend an, bis er in dessen Abwesenheit einen Akt des Widerstands setzt und in eine eigene Zukunft aufbricht.

Mit leiser und genauer Beobachtung, bei der statt Musik Naturgeräusche wie Vogelzwitschern, Zirpen von Grillen und knirschende Schritte die Tonspur bilden, arbeitet Murga präzise und genau in dieser sehr stimmigen und hervorragend gespielten Studie sowohl den autoritär-machistischen Charakter des Vaters als auch die langsam, aber sukzessive sich steigernde Ablehnung des Sohnes heraus.

Übertroffen werden diese Filme aber allesamt von Richard Linklaters "Boyhood". Über zwölf Jahre verteilt drehte der Texaner mit den gleichen Schauspielern an diesem Film und inszenierte nicht die Entwicklung des sechsjährigen Mason zum 18-Jährigen nach, sondern zeigt in 164 Minuten die Entwicklung real.

Hier war keine Maske nötig, um Ethan Hawke und Patricia Arquette, die die Eltern spielen, altern zu lassen und keine je nach Alter verschiedenen Kinderdarsteller für Mason (Ellar Coltrane) und seine Schwester (Lorelei Linklater). Zeitgeschichte vom Irakkrieg über die Wahl Obamas bis zur NSA-Affäre, die im Hintergrund einfließen, musste ebenso wenig rekonstruiert werden wie der kulturelle Background von Videospielen über Harry-Potter-Hype bis Smartphone und Facebook und auch der Soundtrack ergab sich aus den jeweils zur Drehzeit aktuellen Hits.

Das mitfühlende Begleiten eines Erwachsenwerdens verleiht diesem Film, die auch für die "Before"-Trilogie typische Natürlichkeit und Frische. Bestechend fängt Linklater jeweils den Augenblick ein, unverkrampft und echt sind die Dialoge und im befreiten Erzählen, in dem mit großen Ellipsen auch Wohnungswechsel oder die Trennung der Mutter von einem Ehemann übersprungen werden, wird mit großer Leichtigkeit auch die Entwicklung der Weltsicht Masons geschildert.

Hier werden nicht dramatische Momente breit ausgespielt, viel Platz gibt es dafür für Gespräche bei Ausflügen mit dem von der Familie getrennt lebenden Vater, mit der ersten Freundin, einem Lehrer oder Masons Chef bei einem Nebenjob. Beiläufig werden die Charaktere der Mutter, die immer wieder an die falschen Männer gerät, und des im Laufe der Jahre erst Verantwortungsbewusstsein entwickelnden Vaters gezeichnet. Und Verantwortung ist auch das zentrale Wort, das vom Anfang an in diesem zutiefst menschlichen und die Menschen liebenden Film, der auch ein großer Film über Texas, über seine Landschaften und Städte und die Mentalität ihrer Bewohner ist, immer wieder fällt. - Welchem Film, wenn nicht "Boyhood" soll die Jury am Samstag den Goldenen Bären geben?