64. Berlinale - Eine Bilanz

"Licht und Schatten" war das Thema der Retrospektive der diesjährigen Berlinale, könnte man aber auch als Bilanz für das Festival titeln. Denn der Wettbewerb bot viel Annehmbares, ein paar Flops und immerhin einen herausragenden Film. – Ingesamt ergibt das ein durchschnittliches Berlinale-Jahr.

Stars gab es auf dem Roten Teppich zwar jede Menge, mit 330.000 verkauften Eintrittskarten kann sich die Berlinale auch über einen neuen Rekord in ihrer 64-jährigen Geschichte freuen, doch wiederum nicht zu übersehen war, dass die großen Regisseure im Wettbewerb weitgehend fehlten: Cannes lockt eben mehr als Berlin.

Wer bei der Berlinale groß wurde, wie Asghar Farhadi mit "About Elly" und dann mit dem Meisterwerk "Nader and Simin – A Separation" geht mit seinem nächsten Film – wie in diesem Fall "Le passé" - an die Côte d´Azur. Meist nur die schwächeren Filme der großen Regisseure der Gegenwart wie Ulrich Seidls "Paradies: Hoffnung" oder Brillante Mendozas "Captive" bekommt die Berlinale - Ausnahmen wie Richard Linklaters "Boyhood" bestätigen hier eher die Regel.

Mit Wes Andersons "The Grand Budapest Hotel", der in Berlin wohl auch deshalb lief, weil er großteils in Deutschland gedreht wurde, wurde das Festival zwar fulminant eröffnet, mit Lars von Triers "Nymphomaniac 1" wurde außer Konkurrenz auch ein wuchtiger und Diskussionen provozierender Film gezeigt, doch insgesamt drückten dem Wettbewerb kleinere Filme den Stempel auf.

In seiner formalen und inhaltlichen Konsequenz beeindruckend war Dietrich Brüggemanns "Kreuzweg", nicht zuletzt dank seines starken Hauptdarstellers Ivo Pietzker zu bewegen verstand Edward Bergers "Jack" und viel Spaß bereitete Hans Petter Molands pechschwarze Komödie "Kraftidioten".

Auffallend war, dass nicht nur Moland Genrekino bot, sondern dass sich auch zwei chinesische und der griechische Wettbewerbsfilm klassischer Genres bedienten, um Gesellschaftskritik zu üben. Während sich Diao Yinan in seinem mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten "Black Coal, Thin Ice" am amerikanischen Film noir der 40er Jahre orientierte, arbeitet sein Landsmann Ning Hao in "No Man´s Land" mit den Mitteln des Western und der "Mad Max"-Serie, versetzt mit dem schwarzen Humor der Coen-Brüder. In einer in Braun getauchten Wüstenlandschaft lässt Hao auf und um einen endlosen Highway einen jungen Anwalt, einen kriminellen Falkenhändler, zwei Bauern und einen Tankstellenbesitzer einen brutalen Kampf ausfechten.

Stark ist der Beginn, doch der Spaß an diesem Film lässt nach etwa einer Stunde doch nach, denn die Wendungen beginnen sich zu wiederholen und der Film sich im Kreis zu drehen. Mit "Black Coal, Thin Ice" verbindet "No Man´s Land" bei allem Entertainment, das hier geboten werden soll, aber ein pessimistischer Blick auf die Menschen, die nur an sich denken. Von Tieren unterscheiden sie sich nach Aussage des Protagonisten nur durch die Erfindung des Feuers, das folglich hier dann auch nicht positiv, sondern destruktiv eingesetzt wird. Angeklebt wirkt ein optimistisches Ende, das wohl Zensurzwängen geschuldet ist.

Doch nicht nur chinesische Regisseure – zuletzt auch Jia Zhangke mit "A Touch of Sin" -, sondern auch der Grieche Yannis Economides bedient sich des Genrekinos, um Gesellschaftskritik zu üben. In "To mikro psari - Stratos" schickt der 47-jährige Regisseur einen Killer durch desolate Vorstädte eines in kalte Farben getauchten Griechenland, in dem Gier das Handeln bestimmt und jede Moral und alle Werte längst aufgegeben wurden. Menschlichkeit legt hier als einziger ausgerechnet der Killer an den Tag.

Überraschend hoch für den Wettbewerb eines großen Filmfestivals war mit diesen Genrefilmen die Zahl der Morde, denen man auf der Leinwand folgte. Gegenpol dazu stellten die ebenfalls überraschend zahlreichen Filme dar, in denen Kinder im Mittelpunkt standen.

Während letzteres Zufall sein dürfte, wird sich in nächster Zeit zeigen, ob es sich bei der starken Präsenz des Genrekinos um einen Trend handelt. Unbeeindruckt von allen Moden und Trends zeigten sich bei der Berlinale jedenfalls die beiden Altmeister Alain Resnais und Yoji Yamada.

Wie schon mehrfach lässt der 91-jährige Franzose in seiner Alan Ayckbourn-Verfilmung "Aimer, boire et chanter" sechs Schauspieler vor bewusst künstlichen Kulissen über Leben und Liebe diskutieren, lässt Eifersucht wachsen und die drei Paare gerade durch die Bedrohung ihrer Beziehungen durch den todkranken George, der ständig Gesprächsthema ist, aber nie zu sehen ist, wieder stärker zueinander finden.

Im Gegensatz zu den Experimenten Resnais´ erzählt der Japaner Yoji Yamada in der Literaturverfilmung "The Little House", gerahmt durch eine Gegenwartshandlung, ganz klassisch von Taki, die zwischen 1935 und den frühen 1940er Jahren in einem Tokioter Haushalt arbeitet und Zeuge, aber auch Teil einer unerlaubten Affäre wird.

Wunderbar zurückhaltend ist diese bittersüße Liebesgeschichte inszeniert, lässt auch die zeitgeschichtlichen Ereignisse mit der Kriegsbegeisterung einfließen, die von heutiger Perspektive aus wiederum kritisiert wird.

Yamada erzählt ohne Schnörkel und Spielereien in langen, ruhigen Einstellungen, in denen er tief in die Gefühle der Figuren eindringen und mit ihnen mitfühlen lässt. Mit modernem Kino hat das nichts zu tun, bewegt in seiner Gefühlstiefe aber sehr und warnt auch eindringlich vor den Schrecken des Kriegs, auch wenn dieser hier im filmischen Off stattfindet. - Ein runder und würdiger Abschluss eines Festivals, das gern in einem Atemzug mit Cannes und Venedig genannt wird, aber doch in der zweiten Liga spielt, wie schon die für die kommende Veranstaltung an der Côte d´Azur kolportierten Titel und Regisseure deutlich machen.