Diagonale 2015: Die sprühende Vielfalt des österreichischen Films

23. März 2015
Bildteil

Auch die heurige Ausgabe der Diagonale in Graz vermittelte eindrücklich die Vielfalt des österreichischen Films: Große Dokumentarfilme konnte man ebenso entdecken wie meditative und sperrige Spielfilme, aber auch klassisches Genrekino fehlte nicht. Mit Nikolaus Müllers Kurzfilm "Der Damm" und Thomas Wirthensohns Dokumentarfilm "Homme Less" waren auch zwei Produktionen von Vorarlbergern vertreten.

Dem großen Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter war nicht nur die heurige Personale gewidmet, in deren Rahmen nochmals seine Kinofilme vom Donaufilm "Angeschwemmt" (1994) über "Das Jahr nach Dayton" (1997) und "Elsewhere" (2001) bis "Abendland" (2001) gezeigt wurden, sondern auch sein jüngster Film "Über die Jahre" (2014) feierte in Graz unmittelbar vor dem Kinostart seine Österreichpremiere.

Zwischen 2004 und 2014 hat Geyrhalter für diese Langzeitbeobachtung immer wieder in unregelmäßigen Abständen ehemalige Mitarbeiter, aber auch den Chef der im niederösterreichischen Schrems angesiedelten Textilfabrik Anderl besucht. Zu Blütezeiten der Textilindustrie waren hier 250 Menschen beschäftigt, doch diese sind zu Beginn des Films längst vorüber. Anachronistisch wirkt nicht nur die Eingangshalle mit Stechuhr, sondern auch die alten Maschinen. Kaum verwunderlich ist somit, dass die Firma wenig später in Konkurs ging.

"Über die Jahre", der mit dem mit 21.000 Euro dotierten Großen Diagonale-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde, ist nun aber kein Film über den Niedergang der Textilindustrie, sondern vielmehr einer darüber, wie das Leben für die Entlassenen im strukturschwachen Waldviertel, in dem es kaum Jobs gibt, weiter geht. In den wiederkehrenden Besuchen Geyrhalters werden einem die zunächst vielfach wortkargen Protagonisten immer vertrauter, sodass man am Ende gleichsam gute Bekannte verlässt.

Groß ist die Gefahr diese einfachen Menschen in den langen statischen Einstellungen vorzuführen und ganz kann ihr Geyrhalter wohl nicht entgehen, aber im Gegensatz zu seinem Kollegen Ulrich Seidl ist sein Blick immer mitfühlend und liebevoll. Er lässt den Bildern und den auf seine aus dem Off gestellten Fragen nur zögerlich antwortenden Menschen die Zeit, die sie brauchen, und drängt sie nie.

Ein wunderbar unaufgeregter, nichts dramatisierender Film mit einem langen Atem ist so entstanden, der in den 188 Minuten – ähnlich wie Richard Linklaters "Boyhood" – vom Vergehen der Zeit erzählt. Mehr als im Wechsel der Jahreszeiten vermitteln das freilich die Protagonisten, deren Gesichter man altern sieht, und die auch von schweren, nie überwundenen Schicksalsschlägen und von Tod, aber auch von Neuanfängen erzählen.

Wie sehr Film immer auch eine Frage des Blicks ist, zeigt sich auch bei Constantin Wulffs "Wie die anderen". Nach der Schilderung des Alltags in der Wiener Semmelweis-Geburtsklinik in "In die Welt" dokumentiert er nun in Direct Cinema Manier ohne Kommentar und Musik in begleitender Beobachtung den Alltag in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im niederösterreichischen Landesklinikum Tulln.

In kurzen Szenen vermittelt er einen Eindruck von der Vielfalt der Erkrankungen, ebenso wie von den Problemen der Ärzte und Pfleger aufgrund von Unterbesetzung, aber auch von den unterschiedlichen Therapiemethoden. Bewusst wird hier vieles angerissen, aber nichts weiterentwickelt. Die Vielfalt der Aspekte ist somit sowohl Stärke als auch Schwäche des Films, denn wirklich nahe können einem die Schicksale aufgrund der Bruchstückhaftigkeit kaum gehen, allerdings war es ja auch nicht das Ziel Krankengeschichten nachzuzeichnen, sondern einen Überblick über den Betrieb zu vermitteln.

Einen langen Atem wie Geyrhalters "Über die Jahre" kennzeichnet auch Peter Schreiners Spielfilm "Lampedusa". Der Titel weckt unweigerlich Assoziationen an die Flüchtlingsboote, die immer wieder auf der zwischen Italien und Tunesien gelegenen Mittelmeerinsel landen, doch Schreiner klammert diesen gesellschaftspolitischen Kontext aus, fokussiert ganz auf dem Schicksal der alten Giulia, die einst auf dieser Insel irgendwie gestrandet ist, und dem Somalier Zakaria, der schon mehrere Jahre in Italien lebt.

Mehr als eine Geschichte zu entwickeln liest Schreiner in seinem stillen und sehr langsamen Film in langen Großaufnahmen im von Falten zerfurchten Gesicht der Protagonistin und versucht so in ihre Gedanken einzudringen. Eintauchen muss man in den meditativen Rhythmus, den schon die erste Einstellung vorgibt, in der die Kamera langsam von der grauen Meeresfläche, die bruchlos in den grauen Himmel übergeht, zu einer Steilküste schwenkt, und sich dem Fluss der bestechenden Schwarzweißbilder hingeben.

In einem anderen Sinn einen langen Atem bewies Jakob M. Erwa, um den es nach seinem 2007 bei der Diagonale gefeierten Debüt "Heile Welt" still wurde. Acht Jahre später meldet sich der in Berlin lebende Grazer mit "HomeSick" zurück, der mit einem minimalen Budget von 53.000 Euro, von dem ein Teil per Crowdfounding aufgetrieben wurde, gedreht wurde.

Als klassischen Psychothriller auf den Spuren von Roman Polanskis "Rosemaries Baby", "Ekel" und "Der Mieter" inszenierte Erwa die Geschichte um die junge Cellistin Jessica, die mit ihrem Freund eine Berliner Altbauwohnung bezieht. Wirkt die Welt zunächst heil, so bekommt sie für Jessica zunehmend Risse, weil sie sich von einer Nachbarin beobachtet und bedroht fühlt. – Oder sind das nur Wahnvorstellungen, die bei ihr der Druck eines anstehenden Musikwettbewerbs auslöst.

Geschickt spielt Erwa mit den Mustern des Thrillers, verzichtet dabei auf große Effekte und bleibt ganz im Alltäglichen, erzeugt aber Dichte durch die weitgehende Konzentration auf die Wohnung sowie wenige Schauspieler und setzt zwischen die Handlung geschickt immer wieder stille, aber die Beunruhigung steigernde Ansichten des Innenhofs, des Stiegenhauses und der Waschküche. – Mag Erwa auch manche Details zu sehr betonen, sodass Wendungen vorhersehbar sind, so ist dies doch ein auch stark gespieltes Stück Genrekino aus Österreich, das freilich den bekannten Mustern nichts Neues hinzufügen kann.

An den Filme der Coen-Brüder, aber auch an Motiven von Sam Raimis "A Simple Plan" orientiert sich dagegen Thomas Woschitz bei seinem zweiten Spielfilm "Bad Luck". Mit starker Verankerung im ländlichen Kärnten, trefflichen Typen und knappen, im Dialekt gehaltenen Dialogen spannt der Klagenfurter geschickt in lakonisch abgehangenem Ton, der von der Balkanmusik hervorragend unterstützt wird, und mit schwarzen Humor ein Netz von Figuren, die alle nach Glück – und das heißt für sie nach Geld – streben, deren Träume aber im Unglück enden.

Souverän mit Genremustern spielt auch Andreas Prochaska in seinem ebenfalls in Kärnten spielenden ORF-Landkrimi "Wenn du wüsstest, wie schön es hier ist". Auch dieser Film besticht durch die Verankerung im ländlichen Milieu, markante Figuren und die an David Lynch erinnernde Brechung der durch Heimatlieder beschworenen dörflichen Idylle, hinter der sich aber rasch Abgründe auftun.

Der Dornbirner Nikolaus Müller erzählt dagegen in seinem Kurzspielfilm "Der Damm" knapp und konzentriert eine Beziehungsgeschichte. Die Handlung beschränkt sich auf einen Tag und fokussiert ganz auf dem Paar Chris und Kathi, dessen Beziehung in Routine erstarrt ist. Nach außen scheint man zu harmonieren, doch bei einem Ausflug in die Berge, treten immer wieder Risse zu Tage, die auch ein gemeinsames dramatisches Erlebnis nicht zu kitten vermag.

Beeindruckend ist, wie Müller dieses Kammerspiel in weiter Natur, das freilich weitgehend mit Großaufnahmen und nur punktuell mit Totalen arbeitet, in Bildern erzählt und auf große Dialoge verzichtet. Konsequent entwickelt er die Handlung, lässt unterschwellig die Spannungen köcheln, allerdings wirken Geschichte und Inszenierung auch mehr routiniert am Reißbrett konzipiert als frisch, originell und inspiriert. Als nicht geglückt muss man auch den Versuch betrachten Hochsprache und Vorarlberger Dialekt zu mischen, denn letzterer wirkt hier wieder einmal statt authentisch unecht und künstlich.

Der in New York lebende Dornbirner Thomas Wirthensohn hat dagegen für seinen 80-minütigen Dokumentarfilm "Homme Less" zwei Jahre lang den Streetstyle Fotografen Mark Reay mit der Kamera durch seinen Alltag begleitet. Mit gepflegtem Haar, stylischer Kleidung und eleganten Schuhen scheint er zur gesellschaftlichen Oberschicht zu gehören, wenn er auf den Straßen von New York junge Frauen anspricht und wie Models fotografiert.

Doch der Schein trügt eben, denn Wohnung besitzt dieser Mann keine, sondern verrichtet seine Körperpflege in öffentlichen Toiletten und hat sich auf dem Dach eines Wohnblocks in East Village mit einer Plane eine Schlaftstätte eingerichtet. Mehr als Hobby denn als Job betrachtet das 52-jährige Ex-Model die Fotografie folglich auch, verdient sich den Lebensunterhalt vielmehr als Statist und Kleinstdarsteller in TV-Filmen oder Kinohits wie "Men in Black 3" oder auch als Weihnachtsmann.

Nah dran ist Wirthensohn an Reay, problematisch ist freilich, dass man nur die Perspektive dieses brillanten Selbstdarstellers sieht, nur er zu Wort kommt und auch der Film ganz im Hier und Jetzt verhaftet ist und man kaum etwas über die Vergangenheit Reays erfährt.

Flott geschnitten und durchaus unterhaltsam, wenn auch redundant ist das aber allemal, verfällt dabei aber auch immer wieder mal der Lust den schönen Schein zu zelebrieren, ihn zu feiern, führt aber eben auch einen treffenden Diskurs über diese Ambivalenz von Schein und Sein, von glitzernder Modewelt auf der einen Seite und Leben in Armut auf der anderen und über das wohl nicht nur in New York zu findende Streben diese Armut nach außen zu vertuschen und der Welt einen schönen Schein vorzuspielen.