Viennale 2015: Zeitgeschichte und Gesellschaftsbilder

Wie unterschiedlich sich Filme mit Zeitgeschichte auseinandersetzen können, zeigten bei der Viennale neue Filme von Todd Haynes, Jia Zhangke, Amos Gitai, Alexander Sokurov und Joshua Oppenheimer.

Todd Haynes erzählt in "Carol" nach dem gleichnamigen, zunächst unter einem Pseudonym erschienenen Roman von Patricia Highsmith von einer lesbischen Liebe zwischen einer Verkäuferin und einer Dame aus der Oberschicht im Amerika der frühen 1950er Jahre.

Mit unvergleichlicher Meisterschaft erwecken Haynes, sein Kameramann Ed Lachman, die Kostümbildnerin Sandy Powell und die Production Designerin Judy Becker die 50er Jahre zum Leben. Jeder Farbton, jeder Musikeinsatz stimmt hier, makellos ist die Inszenierung, großartig die schauspielerischen Leistungen von Cate Blanchett und vor allem von Rooney Mara, die eindrücklich die Wandlung der zunächst schüchternen Verkäuferin vermittelt.

Doch so virtuos dieses Melodram, das mit seiner Kritik an einer repressiven Gesellschaft zeitlos ist, auch inszeniert ist, so stellt sich doch auch ein gewisses Déjà vu ein. Denn schon vor 13 Jahren hat Todd Haynes mit "Far from Heaven" ein Meisterwerk vorgelegt, das nicht nur ebenfalls in den 1950er Jahren spielt, sondern auch mit den genau gleichen formalen Mitteln arbeitet und ebenfalls von gesellschaftlicher Repression erzählt.

Während sich bei "Carol" die Handlung nur über wenige Monate erstreckt, spannt Jia Zhangke in "Shan he gu ren – Mountains May Depart" den Bogen in drei Kapiteln über 25 Jahre. Mit den Mitteln des Hollywoodkinos erzählt Zhangke eine Dreiecksgeschichte, in der die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft von der Aufbruchsstimmung in den späten 1990er Jahren bis zur Desillusionierung und dem völligen Verlust der Identität im Jahr 2025 gespiegelt wird.

Festgemacht wird diese Entwicklung an einer Frau und zwei Männern, die um sie werben. Sie gibt dem aufstrebenden Unternehmer den Vorzug, doch ihre Ehe wird nicht lange halten und ihr Sohn wird mit dem Vater bald nach Australien ziehen, wo der Sohn erst wieder Chinesisch lernen wird müssen, der Vater dem Alkohol verfällt. Der zweite Mann dagegen wird als Wanderarbeiter durch die Bergwerke Chinas ziehen und schließlich todkrank in seine Heimat zurückkehren.

Vermittelt hier "Go West" von den Pet Shop Boys am Beginn noch die Aufbruchsstimmung trotz der Enge, die das 4:3 Format evoziert, so macht sich am Ende – trotz des nun zum Cinemascope geweiteten Bilds - bei einem einsamen Tanz zum gleichen Song in öder Landschaft bei Schneefall Desillusionierung breit. Die Botschaft mag "Mountains May Depart" teilweise überdeutlich vor sich her tragen, aber Zhangke bietet mit diesem epischen Film auf jeden Fall mitreißendes und kraftvolles Kino.

Im Gegensatz zur Emotionalität, mit der Haynes und Zhangke arbeiten, setzt Amos Gitais in "Rabin, the Last Day" auf Sachlichkeit. In einer Mischung aus Interviews, Archivmaterial und inszenierten Szenen zeichnet er auf Basis der Protokolle der Schamgar-Kommission die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin am 4. November 1995 und die sich daran anschließenden Ermittlungen nach.

Spannung entwickelt das zweieinhalbstündige Dokudrama durch die dichte und messerscharfe Verknüpfung einerseits der unterschiedlichen Materialien, andererseits der unterschiedlichen inhaltlichen Ebenen von Verhören des Fahrers, des Leibwächters und der Sicherheitskräfte bis zu Sitzungen ultranationalistischer Gruppierungen.

Klar zeigt Gitai so auf, dass es zwar die Tat eines Einzelnen war, dass diese aber wiederum aus einem gesellschaftlichen Umfeld resultiert und macht auch erschreckend die dramatischen Spannungen zwischen den Friedensbefürwortern um Rabin und den rechten Kreisen, die auch in öffentlichen Protesten Rabins Tod forderten, sichtbar. – Ein ebenso kluger wie packender Film, der gleichermaßen Hommage an Rabin ist wie immer noch bestürzend aktuelle Schilderung innerisraelischer Spannungen.

Während Gitai zwar aus seiner Position kein Hehl macht, aber die Ereignisse sachlich rekonstruiert, prägt gerade der subjektive Blick Alexander Sokurovs "Francofonia". Denn einerseits bringt sich der Regisseur selbst ins Bild, wenn er mit dem Kapitän eines Frachters, auf dem Kunstschätze transportiert werden, per Skype kommuniziert und mit seinem Off-Kommentar durch den ganzen Film führt.

Stehen am Anfang Überlegungen über die Bedeutung der Museen oder der Porträtkunst, die es im Islam nicht gibt, für den Menschen, so konzentriert sich der Blick bald auf den Louvre. Ausgehend von der deutschen Besetzung von Paris und dem Aufeinandertreffen des Louvre-Direktors Jacques Jaujard und Franz Graf Wolff Metternich, dem Leiter des deutschen Kunstschutzes im 2. Weltkrieg, taucht Sokurov ein in die Geschichte des Louvre, sinniert aber auch – höchst problematisch – über die positive Rolle der kunstsinnigen Nazis, die im Gegensatz zu den Bolschewiki in Leningrad Kunst nicht zerstörten, sondern bewahrten.

Übervoll ist der Film in seiner Mischung aus inszenierten Szenen, in denen er immer wieder eine Marianne, die "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" fordert, und Napoleon, der mit "C´est moi" seinen Alleinherrschaftsanspruch betont, durch die Gänge huschen und aufeinandertreffen lässt, realem oder fingiertem Archivmaterial, das aber auf jeden Fall bearbeitet ist, und der Gegenwartsebene mit Sokurovs Kommentar und dem Frachter, der zu sinken droht. – Immer wieder faszinierend und im höchsten Maße zum Nachdenken anregend ist dieser Essayfilm – und dann wieder irritierend mit seinen kindlichen Animationsszenen zur Entstehung des Louvre oder seinen historischen Vergleichen zwischen Nazis und Bolschewiki.

An eine dunkle Zeit erinnert auch der Dokumentarfilmer Joshua Oppenheimer, der sich nach "The Act of Violence" in "The Look of Silence" erneut mit dem Völkermord im Indonesien der 1960er Jahre auseinandersetzt. Näherte sich Oppenheimer in "The Act of Violence" aber aus der Perspektive der Täter dem Thema, so stehen nun die Opfer im Mittelpunkt.

Auf die grellen Momente des Vorgängerfilms verzichtet der Texaner, sondern folgt dem Bruder eines Opfers, der die Täter und deren Angehörige mit ihren Verbrechen konfrontiert und über das Schicksal seines Bruders befragt.

Diese reden sich dabei nicht nur – wie in solchen Fällen üblich – darauf hinaus, im Auftrag der Regierung gehandelt zu haben, sondern drohen dem Nachfragenden auch mehr oder weniger offen, denn die Täter sind hier immer noch an der Macht. Nur Schuldgefühle zeigen sie nicht in diesem leisen, aber in seiner konzentrierten Inszenierung erschütternden Dokumentarfilm, in dem am Einzelschicksal das Grauen des Massenmords präsent gemacht wird. Mit beharrlichem Blick zerrt Oppenheimer die verdrängte Wahrheit ans Licht, erteilt dem Vergessen eine Absage, plädiert aber dennoch nicht für Rache, sondern für Vergebung.