Bregenzer Frühling. Richard Siegal lotet die Grenzen des Tanzes aus

In noch nie gesehene Dimensionen von modernem Ballett entführte der amerikanische Choreograf Richard Siegal im Bregenzer Festspielhaus mit der Kompanie "Ballet of Difference am Schauspiel Köln". Er hat den klassischen Tanz revolutioniert und stellt seine innovativen Projekte auf Festivals in der ganzen Welt vor. Als freie Gruppe organisiert, sind hier großartige Tänzerinnen und Tänzer vereint, die auf sehr unterschiedliche Weise geprägt worden sind.

Der Titel seiner neuen Produktion XERROX VOL.2 bezieht sich auf die visionäre elektronische Musik von Alva Noto (alias Carsten Nicolai, das Opus Magnum hat vier Teile) zu der Siegal die vom klassischen Ballett abgeleitete Choreografie – im wahrsten Sinne des Wortes – komponiert hat. Sich einfach nur auf dieses Gesamtkunstwerk staunend einzulassen fällt leicht, denn schon das Anfangsbild ist überwältigend.

Der bühnenhoch aufgespannte helle Raum verändert sich in großer Geste, reißt Tore auf, weitet und begrenzt sich wieder. Es ist ein leichter Vorhang, gezielt bewegt von Windmaschinen und höhenverstellbar, sodass später sogar eine Hügellandschaft entsteht um am Ende so weit hochgezogen zu werden, dass die Menschen über einen schmalen Spalt im Nichts verschwinden. Lichtdesign trägt zur Raum-Illusion das seine bei. Und wenn sich der Boden plötzlich in eine freihängend wirkende Matrixfläche entmaterialisiert, ist eben auch durch diese technischen Begleiterscheinungen eine weitere Dimension in der eigenen Vorstellungskraft erreicht.

Zum futuristisch, von der Lautstärke her durchdringenden Klangteppich bewegen sich Menschen in extremer, alle Grenzen auslotender Körperlichkeit. Blitzschnelle Pirouetten, Arabesquen in unendlichen Linien, Pilé und Tendu in überlangen Streckungen, Glissaden die den Raum durchschweben lassen. Stop-and-go, Innehalten in übermenschlichen Positionen, mit scharfer Präzision die Richtungen wechselnd, interagierend, geschlechtsneutral den Pas-de-deux zelebrierend. Und phasenweise wird es so unerträglich still und intim, dass sich das Publikum anscheinend nur durch Aufhusten (und absolut jedes davon wird hörbar) vom Bann befreien kann. Bewegung, Raum und Musik derart in wechselseitig wirksames Verhältnis gesetzt, lässt eine Vision zur Zukunft des Balletts als interdisziplinäres Gesamtkunstwerk entstehen.

XERROX VOL.2
Ballet of Difference am Schauspiel Köln
Choreografie: Richard Siegal
Bühne: Richard Siegal
Musik: Alva Noto (alias Carsten Nicolai)
Licht und Video: Matthias Singer
Kostüme: Flora Miranda
Dramaturgie: Tobias Staab
Produktion: 2022, 66 min

Bregenzer Frühling 2023
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