Zwei Modelle der Brücke-Künstler

Das Sprengel Museum Hannover zeigt vom 29. August 2010 bis 9. Januar 2011 eine umfassende Ausstellung, die den beiden bekannten jugendlichen Modellen der Brücke-Künstler, Fränzi und Marzella, gewidmet ist. Die Künstlergruppe "Brücke" wurde im Jahre 1905 von den Architekturstudenten Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt (später Schmidt-Rottluff) in Dresden gegründet.

Später traten auch Max Pechstein, Emil Nolde, Otto Müller und der Schweizer Cuno Amiet der "Brücke" bei. Ihr künstlerisches Credo, das Kirchner im Jahre 1906 in Holz geschnitzt hat, war ein revolutionärer Aufruf, sich vom Akademismus dieser Zeit zu lösen und "…unmittelbar und unverfälscht…" das wiederzugeben, "… was ihn (den Künstler) zum Schaffen drängt". Den Künstlern ging es dabei nicht nur darum, die Kunst vom Ballast der Tradition zu befreien, sondern auch die engen Grenzen der bürgerlichen Lebensweise und Moral abzuschütteln. Schon bald beginnen sie - zunächst im der Wohnung von Kirchner, danach in den Wohnung Fritz Bleyls - sich im Aktzeichnen zu üben, wobei ihre Modelle ihre Position alle Viertelstunde wechseln sollten. Auf diese Weise wurde eine schnelle Durchführung der Zeichnungen erzwungen. Freunde, Bekannte sowie junge Mädchen aus der Nachbarschaft, von denen uns nur wenige namentlich bekannt sind, dienten dabei als Modelle.

In der Chronik KG Brücke von 1913 wird beschrieben, wie es am Anfang der Künstlergemeinschaft zu diesen Zusammenkünften in Kirchners Atelier kam, denn "... man hatte hier die Möglichkeit, den Akt, die Grundlage aller bildenden Kunst, in freier Natürlichkeit zu studieren". Das Aktzeichnen war für die Mitglieder der "Brücke" eine der wichtigen Grundlagen ihrer künstlerischen Arbeit, die Quelle, die ihre Kunst nährte, aber auch den privaten Zusammenhalt der Gruppe in vielerlei Hinsicht entscheidend prägte.

Natürlich war die von den jungen Architekturstudenten so sehr geliebte Form des Aktzeichnens auch ein Protest gegen die statische Form des Aktstudiums, die auf die fast fotografisch genaue Wiedergabe des Menschen, seiner Haut und der Muskeln den größten Wert legte, die Bewegung jedoch aussparte. Für die Künstler der "Brücke" war die anatomische Genauigkeit nicht nur eine Nebensache, sondern fast schon unerwünscht. Um dieser Genauigkeit aus dem Wege zu gehen und sich in der schnellen Erfassung des Wesentlichen bei einem Modell zu üben, wurden eben die "Viertelstundenakte" eingeführt: eine ideale Vorübung für das Zeichnen von Menschen in Bewegung. So entstanden sowohl im Atelier von Kirchner, wo sich die Freunde zumeist trafen, als auch an den Moritzburger Teichen, wo die Bewegung eine größere Rolle spielte, hunderte von schnell gezeichneten Skizzen, die später auch als Vorlage für Gemälde oder für druckgrafische Blätter herangezogen wurden.

Max Pechstein berichtet, dass man vor der Reise zu den Moritzburger Teichen im Jahre 1910 auf der Suche nach Menschen war, die "...keine Berufsmodelle waren und uns daher Bewegungen ohne Atelierdressur verbürgten". In vielen Gemälden aus den Jahren 1909 bis 1912, in farbigen Blättern und einer fast unüberschaubaren Anzahl von Zeichnungen haben die Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Max Pechstein zwei jugendliche Modelle aus Dresden abgebildet, die wir lange Zeit nur unter ihren Vornamen gekannt haben: Fränzi und Marzella.

Es kann heute als gesichert gelten, dass zumindest die knapp zehnjährige Fränzi in den Jahren 1909 und 1910 die Künstler zu den Moritzburger Teichen begleitete. Auch Marzellas Anwesenheit scheint für das Jahr 1910 durch verschiedene Darstellungen des Mädchens in den Werken der Künstler gesichert zu sein. Fritz Bleyl erinnert sich in den 1950er Jahren an ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, das in Kirchners Atelier Modell gesessen hat. Es ist im höchsten Maße wahrscheinlich, dass auch sie die Künstler zu den Moritzburger Teichen begleitet hat. In den letzten Jahren ist es der Forschung gelungen, wenigstens die Person der Fränzi eine Identität und eine - wenn auch kurze - Biografie zu geben. Angeregt durch dieses Ausstellungsvorhaben gibt es nunmehr Erfolg versprechende Ansätze, auch die Person der Marzella aus dem Dunkel der Anonymität heraus zu holen.

Die Ausstellung will nun an Hand der Bilder, der Gemälde und Zeichnungen, die alle eine hohe künstlerische Qualität haben, nicht nur das wechselseitige Verhältnis zwischen Maler und Modell beleuchten, das im Falle der beiden Mädchen sich aus den verschiedensten Aspekten zusammensetzt, sondern auch den Einfluss aufzeigen, den die Persönlichkeit der Modelle, ihre nicht posierende Unbekümmertheit und Lebendigkeit und ihre auffallende Präsenz im Atelier und in der freien Natur der Moritzburger Teichen auf den Stil und die Kunst der Maler hatte. Damit wird nicht nur der Versuch unternommen, eine Erklärung zu finden für den sich immer deutlicher abzeichnenden Stilwechsel der Künstler in dieser Zeit, sondern auch ein weiterer Schritt zum Verständnis des sozialen und kulturellen Umfelds der Brücke-Künstler geleistet. Zahlreiche nationale und internationale Museen haben jetzt schon zugesagt, diese Ausstellung durch wichtige Leihgaben zu unterstützen, u. a. das Brücke-Museum, Berlin; das Kirchner Museum Davos; die Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg; das museum kunst palast, Düsseldorf; das Altonaer Museum, Hamburg; die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe; das Saarland Museum, Saarbrücken; das Moderna Museet, Stockholm, sowie private Leihgeber.

Der Blick auf Fränzi und Marcella
Zwei Modelle der Brücke-Künstler
29. August 2010 bis 9. Januar 2011