Yto Barrada – Riffs

"Yto Barrada – Riffs" ist die erste grosse Museumsausstellung der französisch-marokkanischen Künstlerin. Sie wurde 2011 als "Künstlerin des Jahres" von der Deutschen Bank ausgezeichnet. Verbunden mit dieser Ehrung ist die vom Finanzinstitut ermöglichte Ausstellung, die im Deutschen Guggenheim in Berlin und nach Stationen in Brüssel, Chicago, Birmingham und Rom nun auch im Fotomuseum Winterthur zu sehen ist. Yto Barrada setzt sich in ihren fotografischen, filmischen und skulpturalen Arbeiten seit über einem Jahrzehnt intensiv mit den politischen Realitäten in Nordafrika auseinander.

Ihr Werk kreist um das Leben in ihrer marokkanischen Heimatstadt Tanger, deren spezielle Situation an der Strasse von Gibraltar sinnbildlich für den historischen Umbruch in vielen Ländern Nordafrikas steht. "Ich war immer aufmerksam für das, was unter der Oberfläche des öffentlichen Verhaltens liegt", sagt Yto Barrada. "In der Öffentlichkeit akzeptieren die Unterdrückten die Unterdrückung, aber hinter den Kulissen stellen sie diese ständig infrage. Subversive Taktiken der Armen, ihre Strategien, die Klassengesellschaft anzufechten, und ihre Formen der Sabotage – das ist es, was mich am meisten interessiert." Mit dem Titel der Ausstellung "Riffs" verweist Barrada auf den entsprechenden Begriff aus der Musik und zugleich auf das von der Künstlerin geleitete Cinéma Rif sowie das angrenzende Rif-Gebirge, das bereits mehrmals eine Hochburg für antikoloniale Aufstände war.

Die Stadt Tanger ist seit langem ein Sehnsuchtsort von Nordeuropäern und Amerikanern, auffallend aber seit den 1950er Jahren, seit Paul Bowles, Jane Bowles, Tennessee Williams, Jack Kerouac, Truman Capote und William S. Burroughs sie zum melancholischen Fluchtpunkt erklärten. Tanger ist Heimat und Forschungsort von Yto Barrada, der marokkanisch-französischen Künstlerin, die 1971 in Paris geboren und in beiden Ländern aufgewachsen ist. Doch nicht "dieses Tanger", weder der Projektionsort der intellektuellen Existenz-"Süchtler" noch die Orientfantasien der zehn Millionen Touristen, die jährlich Marokko besuchen, ist ihr Erkenntnisinteresse, "ihr" Tanger ist vielmehr das Tanger der Neunziger- und Nuller-Jahre.

Das aktuelle Tanger ist es, das sie umtreibt, das in jeder Arbeit, jedem Video, jeder Fotografie, Skulptur oder Installation auf eine neue, besondere Weise berührt und thematisiert wird. "Tanger" ist das Untersuchungsfeld, der Fokus, der Gefühlsort für Yto Barrada, wie man es selten so konzentriert bei FotografInnen und KünstlerInnen sieht. David Goldblatt mit seinen seit fünfzig Jahren fortlaufenden Recherchen in Johannesburg (und in ganz Südafrika) und William Eggleston mit dem immer wiederkehrenden Kreisen um Memphis-Tennessee gehören zu den wenigen vergleichbaren Fälle.

Die nur 14 km lange Meerenge bei Gibraltar ist seit 1991 zum unüberwindbaren Hindernis, zum Marianengraben zwischen Europa und Afrika geworden. Schnellboote überqueren die Meerenge in 35 Minuten, schiffen Touristen von Norden nach Süden, während nach Norden reisende Marokkaner (und allgemein Afrikaner) polizeilich aufgegriffen und möglichst schnell zurückgeschickt werden. Eine touristisch ausgerichtete Einbahnstrasse entstand, wo einst über den Austausch der Kulturen fantasiert wurde. Yto Barradas thematisiert diesen Schnitt, diesen chirurgischen Eingriff in reale Handelswege und mentale Fluchtwege. Was als Möglichkeit interessant, aber nicht zwingend war, wandelte sich durch das strikte Verbot, durch die Beschneidung Nordafrikas, zum dringenden Verlangen. Ihre fotografische Serie erzeugt mit ruhig beobachtenden, zurückhaltenden Bildern ein Klima des Wartens, Verharrens, des Kreisens.

Diese Grenze zu Europa steht nicht allein. Tanger entwickelt innere Gräben, vergrössert sich schnell zu einer konformen Immobilienstadt. 5000 Baubewilligungen würden in einem Jahr erteilt, schreibt Yto Barrada. Die Stadt dehnt sich gegen Süden in die Landschaft aus. Und innerhalb füllen sich Schritt um Schritt die Brachen auf, wird das Unklare, Ungefähre durch Neubauten, durch neue Streusiedlungen umbesetzt. Ein Immobilienkapitalismus gepaart mit neoliberaler Politik macht sich breit, schlägt sich den Weg durch die bestehende Architektur, durch die bisherigen Landbesitzverhältnisse. Grenzen also auch innerhalb der eigenen Stadt, Schichtungen, die sich laufend verschieben. In ihren Fotografien zeigt Yto Barrada das Umstechen, Wuchern, Ausufern, das Besitzergreifen des neuen Bauens.

Im Video "Beau Geste" (2009) pflegen und stützen drei Männer mit grosser Sorgfalt eine gebrechliche Palme. Die von Yto Barrada engagierten Baumaktivisten arbeiten illegal – mit "kleinem Ungehorsam" – gegen ein Gesetz an, das es Besitzern erlaubt, auf dem eigenen Land zu bauen oder das Land zu verkaufen, sobald keine Frucht mehr darauf wächst, kein Baum mehr steht. Die Baumaktion wird zum "Guerillagärtnern", das von zufällig vorbeigehenden Beobachtern intensiv diskutiert wird.

Yto Barrada verfolgt die Veränderungen ihrer Stadt mit Argusaugen, und setzt ihnen Aktionen, Bilder und Filme entgegen. Doch es sind immer Bilder, die mit auffallender Ruhe, mit Distanz und Zurückhaltung das Geschehen beobachten. Sie sind weder ikonisch, noch kampftauglich. Sie wollen keine Aufklärungswaffen sein, keine wissenssichere, überhebliche Bildwelt, die genau weiss, wie sie sichverhalten, wie sie wirken muss. Als würde Yto Barrada immer ein wenig zurückweichen, zwei, drei Schritte nach hinten machen, öffnen sich in ihren quadratisch ruhenden, fast statischen Farbbildern Blickfelder – auf eine Landschaft, eine städtebauliche Konstellation, ein Sein, ein Ruhen –, es zeigen sich Dinge, Häuser, Menschen, damit wir als Betrachter uns mit ihnen beschäftigen, damit wir eintauchen, suchen, erkunden, denken. Auffallend entdramatisiert sehen wir hier ein Zeichen, da eine Geste, dort einen Umstand, real und allegorisch zugleich.

Yto Barrada – Riffs
1. Dezember 2012 bis 10. Februar 2013