Wer bin ich morgen? - Chiharu Shiota im Kunstraum Dornbirn

In der ehemaligen Montagehalle hängt über Kopf ein rotes labyrinthisch verschlungenes Geflecht. Es vereinnahmt die gesamte Ausstellungsfläche und wir sind mit dem Eintreten direkt mittendrin. Beim zunehmend genauen Betrachten erkennt man ineinander verschlungene Schläuche. Aufgehängt an der 11 Meter hohen Decke, an über 40.000 roten Fäden, scheint die Materie keineswegs statisch, sondern vielmehr in Bewegung: Auf fünf Kilometer langen Wegen in unzähligen Windungen fließt eine rote Flüssigkeit. An einigen Stellen lösen sich Schläuche aus dem Verbund und führen abwärts, über eine medizinische Pumpe in einen Erlenmeyerkolben.

Die Installation mit dem sprechenden Titel "Who am I Tomorrow?" der Künstlerin Chiharu Shiota entfaltet die faszinierende Anmutung eines lebenden, überdimensionierten und eigenständigen Organismus. Er scheint über den Besuchenden zu schweben, genau eingepasst in die schutzgebende historische Architektur, verbunden mit ihr durch eine nicht erfassbare Anzahl roter Verbindungslinien. Shiota kehrt hier Inneres nach außen. Wir alle leben, arbeiten, schlafen, lieben und leiden physisch angetrieben durch ein fortwährend arbeitendes Herz-Kreislauf-System. Mit einer Herzschlagfrequenz von etwa 70 Schlägen pro Minute werden täglich circa 10.000 Liter Blut in rund 100.000 Kilometer Blutgefäße gepumpt. Die Künstlerin isoliert diesen Blutkreislauf vom systemischen Ganzen, vergrößert ihn und fügt ihn ortsspezifisch in die Hallenstruktur ein. Die Funktion des Herzens übernehmen die Pumpen, welche scheinbares Blut durch die Adern bewegen. Kurz wird es im Erlenmeyerkolben sogar komplett dem Kreislauf entnommen und in dem Gefäß bewahrt, um von der nächsten offenen Ader mit Hilfe der Pumpe wieder in den Kreislauf eingespeist zu werden. Ein Vorgang, der in der Medizin seine Entsprechung in der außerkörperlichen Zirkulation mithilfe der Herz-Lungen-Maschine bei Eingriffen am offenen Herzen findet.

In der Ausstellung spiegelt die Abwesenheit des zugehörigen Körpers den genauen Gegensatz, nämlich die gedanklich bewusste Anwesenheit. Denn ohne diesen Körper existiert der Kreislauf schlichtweg nicht. Er ist verwoben in ein ausgeklügeltes System, in welchem ein Funktionsverlust eines Teils Auswirkungen auf alle anderen hat. Dieses hier dargestellte Innere als Kern der physischen Existenz findet seine wiederholte Repräsentation in Shiotas gesamtem Werk. Die direkte Verbindung des Inneren mit dem Außen entspricht im künstlerischen Werk einer Schichtung: der innere Organismus umgeben von der Haut, geschützt durch Kleidung, beherbergt durch das Bett, das Zimmer, die Wohnung/das Haus, verortet in der Stadt, dem Land, dem Kontinent, der Welt. Ebenjener Welt in einem Universum, in welchem wir einzig auf dem Planeten Erde mit allen anderen Lebewesen koexistieren können und hier in der Verantwortung stehen, diese Gemeinschaft im Gleichgewicht zu halten und unseren Lebensraum zu sichern. Blut steht in diesem universellen Kontext nicht nur allegorisch, sondern faktisch für die Information des Individuums zu Herkunft, Nation, Familie, Gesundheit und Krankheit. Im besten Fall ist Blut unsichtbar verborgen, nicht spürbar, sensorisch abwesend und damit faszinierend, erschreckend – oder seine Sichtbarkeit ist mit Verletzung, Verlust und anderen Extremsituationen und Schicksalsschlägen verbunden.

Die Analogie der künstlerischen Intervention zum Blutkreislauf beschränkt sich nicht auf den Menschen. Sie ist für andere Lebewesen ebenso gültig und hierin die Verbindung des Menschen mit seiner gesamten Umwelt als zentrales Thema in Shiotas Werk formuliert. Die Darstellbarkeit des Inneren, der psychischen Zustände – Erlebnisse, Traumata, Ängste, Schicksalsschläge oder Glücksmomente, Sicherheit oder soziale Kränkung –, findet ihre Entsprechung in der künstlerischen Formgebung. Darin verschränkt sich das Persönliche, das Intime, mit dem Öffentlichen. Für Shiota ist ihre Kunst eine Heimat, ein Kommunikationsmedium mit der Welt. Und das schafft sie beständig aus sich heraus, nimmt ihre eigenen Erfahrungen als Antrieb und Thema. Seit bald drei Jahrzehnten bildet sie eine konsistente, hochästhetische und international erfolgreiche Formsprache aus. Sie verhandelt darin ihre eigene Geschichte, ihre Identität und die Kulturen, in denen sie aufwuchs und lebt/e. Sie arbeitet mit den konnotativen Zuschreibungen, die sie als Japanerin, als Tochter, als Mutter, als Frau, als Gesundete nach einer Krebserkrankung, als von einer Fehlgeburt Traumatisierte, als Schwester oder Künstlerin im internationalen Betrieb erfährt. Dies tut Shiota in raumgreifenden Installationen, wie ihren mittlerweile ikonischen Fadenverspannungen, aber auch in Zeichnungen, Videos, Performances oder Objekten. Ihre eigenen Erfahrungen werden in der Arbeit zum Anknüpfungspunkt für die Rezipient*innen, wobei dort die individuelle in der kollektiven Erfahrung aufgeht.

Schon der Titel der Dornbirner Ausstellung zeigt: Es geht um mich, also um ein Individuum, die kleinste Einheit einer Gemeinschaft – "Who am I Tomorrow?". Es stellt sich hier nicht weniger als die Identitätsfrage in all ihrer Komplexität, mit allen möglichen Dissonanzen – in biografischen und biologischen Erfahrungen, in Verhalten und Angewohnheit, im sozialen und kulturellen Kontext, im bewusst Adressierbaren und unbewusst Wirksamen, im Zeitgeistigen und Generationsübergreifenden. Automatisch überlegt man beim Lesen der Frage, was ausgehend vom derzeitigen Gesamtzustand bis morgen passieren könnte, damit man dann jemand anderer ist, nie wieder dieser Jemand von heute sein kann oder will. Wie viel Einfluss hat man darauf? Wie viel Macht hat unsere Umwelt? Und wie viel Verantwortung haben wir in dem ständig wechselseitigen Verhältnis für diese Umwelt? "Morgen" ist eine konkrete zeitliche Angabe, es vergeht verhältnismäßig wenig Zeit bis dahin. Wie groß kann also die eigene Transformation sein? Wie sieht die morgige Version meiner selbst aus? Und was (ver-)ändert sie?

Shiota stellt in "Who am I Tomorrow?" diese Fragen und viele mehr in einer eingängigen semantischen Setzung. Die Installation ist in ihrer reinen Größe und harmonischen Schönheit so intensiv im Erleben, dass wir uns der eigenen Verbundenheit mit dieser großen Welt auf besondere Art und Weise bewusst werden. Die künstlerische Sprache ist intuitiv erfassbar, wobei beeindruckt, wie global verständlich und gültig sie ist. In der heutigen globalisierten Welt müssen wir uns einem ständig wachsenden Ausmaß an Verantwortung stellen, was jedoch von der Unsichtbarkeit behindert wird, die unter anderem den großen Distanzen oder der medialen Vermittlung geschuldet ist. Doch Menschen sind des Mitgefühls und somit des Perspektivwechsels und der Sensibilisierung fähig. Shiotas Installationen entwerfen hierfür imaginäre Räume realer Geschichten. Sie versorgen uns mit identitätsstiftenden Narrativen, deren Rückkopplung an die Lebensrealität spürbar und Hoffnung verheißend ist.

Chiharu Shiota ist 1972 in der Präfektur Osaka, Japan, geboren und lebt seit 1998 in Berlin. Ihr Werk wurde weltweit in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert, unter anderem vertrat sie 2015 Japan auf der Biennale in Venedig.

Chiharu Shiota Who am I Tomorrow?
Eröffnung und Sommerfest Donnerstag, 6. Juli 2023, 19 Uhr
Ausstellungsdauer 7. Juli bis 12. November 2023

Artist Talk
Chiharu Shiota im Gespräch mit Thomas Häusle
Freitag, 7. Juli 2023, 14 Uhr, Eintritt frei