„Vom Scheitel bis zur Sohle“ im Quadrart Dornbirn

Das zentrale Thema der neuen Ausstellung im Quadrart Dornbirn ist die menschliche Figur. Der 1957 in Nanjing geborenen Künstler Ren Hui zum Beispiel ist unter anderem bekannt für Selbstporträts, in denen er Medien wie Tafelbild, Holzschnitt und Fotografie auf eigentümliche Weise miteinander kombiniert und im Prinzip auch umdefiniert. Die Motive Huis entstehen aus locker verstreuten Bildpunkten, aus grob gepixelten Strukturen, die er Punkt für Punkt beispielsweise aus schwarz grundierten Holzflächen heraus schneidet. Ein Selbstporträt von Ren Hui ist in der kommenden Ausstellung im Quadrart Dornbirn genauso zu sehen, wie figurative Werke anderer internationaler Kunstschaffenden wie etwa Stefan Balkenhol, Joseph Beuys, Marlene Dumas, Alex Katz, Julian Opie oder Andy Warhol. Diesen internationalen Positionen stellt Kurator Erhard Witzel, der zusammen mit Uta Belina Wäger den Kunstraum Quadrart betreibt, künstlerische Statements aus der heimischen Szene zur Seite, so von Gottfried Bechtold, Markus Grabher, Thomas Hoor, Christoph Lissy, Edgar Leissing, Anton Moosbrugger und Nikolaus Walter. Das alles verbindende Thema der Ausstellung lautet „Vom Scheitel bis zur Sohle“.

Zeitloses Thema der Inspiration

Erhard Witzel hat diesen Ausstellungstitel laut eigenem Bekunden gewählt, weil die Darstellung des menschlichen Körpers in der bildenden Kunst ein zeitloses und faszinierendes Thema sei, das die Menschheit seit Jahrtausenden inspiriert habe. Witzel: „Die Vielfalt der künstlerischen Darstellungen des Individuums spiegelt nicht nur die kulturellen, sozialen und technologischen Entwicklungen wider, sondern auch die Beziehung zwischen Körper und Geist, zwischen Kunst und Wirklichkeit.“ Porträts und der menschliche Körper in seiner Gesamtheit seien schon immer ein Kerngedanke gewesen, um die reale Beobachtung zu schärfen und sich mit der menschlichen Figur auseinander zu setzen, was eben auch der Titel der Ausstellung „Vom Scheitel bis zur Sohle“ aufgreife, so Witzel.

In diesem Zusammenhang verweist der Kurator darauf, dass die Begriffe „Scheitel“ und „Sohle“ als Benennungen der Extrempunkte der menschlichen Grössenausdehnung seit Jahrhunderten dazu benutzt werden, um den Homo Sapiens in seiner Gesamtheit, also auch im Sinne seiner geistigen und moralischen Eigenschaften, zu symbolisieren. Dichterisch etwa habe bereits Goethe 1781 in seinem Gedicht "Grenzen der Menschheit" darüber poetisiert: "Hebt er sich aufwärts und berührt mit dem Scheitel die Sterne, nirgends haften dann die unsicheren Sohlen.“ Und schon im Alten Testament sei diese sprachliche Wendung mehrmals zu finden. Etwa wenn es über Abschalom, den dritten Sohn von König David, heisst: "In ganz Israel gab es keinen Mann, der so schön war und so sehr bewundert wurde wie Abschalom. Vom Scheitel bis zur Sohle war alles an ihm vollkommen.“

Grenzerweiterung durch neue Techniken

In der zeitgenössischen Kunst gewährleisten neuere Techniken wie Fotografie, Digitalisierung, Performance und Installation, die Grenzen der hinlänglich bekannten traditionellen Kunstformen zu erweitern und neue Möglichkeiten einzusetzen, um den Körper visuell zu erforschen, so Erhard Witzel sinngemäss. Die Darstellung des menschlichen Körpers sei somit auch ein Abbild der gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Entwicklung. „Sie spiegelt die sich verändernde Beziehung zwischen Körper und Geist, zwischen Kunst und Realität,“ so der Kurator. Als gravierendes Beispiel nutze zum Beispiel die feministische Kunst seit rund fünfzig Jahren den weiblichen Körper als Symbol des Widerstands gegen gesellschaftliche Normen und
Unterdrückung. Der Körper diene damit auch als Ausdruck von Identität, sei es ethnisch, geschlechtlich oder sexuell und vermittle eine Vielzahl von Bedeutungen und Botschaften.
Dreissig Positionen

Die Ausstellung im Quadrart beleuchtet anhand von Gemälden, Skulpturen, Fotografien und Grafiken von rund dreissig Künstler:Innen, wie vielgestaltig die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Menschen „Vom Scheitel bis zur Sohle“ sein kann. Der zeitliche Rahmen der gezeigten Werke reicht bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Wobei der zentrale Fokus, wie es auch die gesamte Sammlung von Erhard Witzel wiederspiegelt, auf die Kunst der Gegenwart gerichtet ist.

Wobei zu den absoluten „Schwergewichten“ in der Ausstellung sicher Thomas Bayerle zählt, der als wichtigster Vertreter der deutschen Popart gilt. Von ihm zeigt Witzel ein Beispiel aus dem Zyklus „Feuer im Weizen“. In dieser Serie beschreibt der 1937 in Berlin geborene Bayrle den weiblichen und männlichen Körper als Phantasma des Anderen. Sowohl die Entfremdung von der Natur als auch der anatomische Körper werden hier vollständig politisiert. Seine Visualisierung entsteht durch die ständige Wiederholung der in einer heterosexuellen kulturellen Matrix verankerten Geschlechternormen. Der deutsche Ausstellungskurator Florian Waldvogel schreibt in einem Essay dazu: „Bayrles serielle Darstellungen des Sexualaktes ist seine dialektisch visuelle Antwort auf den gesamtgesellschaftlichen Willen zur Mechanisierung des Organisch-Lebendigen Anfang der 1970er Jahre anzusehen, deren historischer Ausgangspunkt wiederum in der Aufklärung liegt.“

Das Interesse der 1965 in Salzburg geborenen Künstlerin Ilse Haider wiederum gilt unter anderem dem Spiel mit geschlechtsspezifischen Identitäts- und Rollenverhalten. Haider verbindet in ihrer Arbeit das Medium der Fotografie mit jenem der Skulptur, wie das im Quadrart gezeigte Werkbeispiel belegt. Viele ihrer Fotoarbeiten zeichnen sich durch ihre dreidimensionale Wirkung aus. Als Bildfundus dienen der Künstlerin alte Zeitschriften und Illustrierte, wobei sie sich vor allem für triviale und erotische Motive, Portraitfotos oder auch Abbildungen von griechischen Götterstatuen interessiert. Indem die Künstlerin diese auf einem dreidimensionalen Bildträger belichtet, durchbricht sie die Flächigkeit der Abbildung.

Aus Vorarlberger Sicht ist etwa Thomas Hoor mit „Frühlingserwachen“ in der Schau vertreten. Es handelt sich dabei um einen mit wulstig pastos aufgetragener Ölfarbe gemalten weiblichern Akt auf einer grünen Wiese, mit weit nach hinten gebeugtem Oberkörper. Die gespreizten Beinen gewähren freie Sicht auf das Geschlecht, das den zentralen Bildmittelpunkt bildet. Das Bild evoziert nicht nur Hoffnung und Erwartung, sondern es symbolisiert auch die Verlorenheit und Einsamkeit der nackten Kreatur. Wie die meisten Arbeiten Hoors, ist auch „Frühlingserwachen“ ein durch und durch ambivalentes Werk.

Die Schau „Vom Scheitel bis zur Sohle“ ist Teil der Ausstellungsserie „Lust auf Mehr“, die das Quadrart parallel zum Ausstellungsprojekt „Auf Einladung“ durchführt. Bei letzterem laden insgesamt fünfzehn Kurator:innen innerhalb von fünf Jahren jeweils Kolleg:innen zu einem gegenseitigen Dialog ein, während im Rahmen von „Lust auf mehr“ Erhard Witzel einmal pro Jahr einen Einblick in seine umfangreiche Kunstsammlung gewährt.

Lust auf Mehr 2024
„Vom Scheitel bis zur Sohle“
Ausgewählte Arbeiten aus der Sammlung Erhard Witzel
17. März 2024 bis 30. Juni 2024

Vernissage: Samstag 16. März 2024 um 17.00 Uhr
Dialogische Einführung mit Uta Belina Waeger und Erhard Witzel
Öffnungszeiten: Do und Fr 17 bis 19 Uhr, Sa 16 bis 18 Uhr
(ab 6. Mai 2024 bis 30. Juni 2024 nur mit telefonischer Vereinbarung – Osterferien 2. Bis 13. April 2024)