Vom riskanten Wunsch nach Sicherheit

Man kann Geschichte als eine Abfolge mehr oder weniger zusammenhängender Ereignisse begreifen. Oder sie unter dem Aspekt Sicherheit betrachten: Was haben Menschen unternommen, um Gefahren abzuwenden, das Leben von Ängsten zu befreien, Hab und Gut sowie Territorien zu schützen? Die aktuelle Sonderausstellung "Auf eigene Gefahr" wandert auf diesem Pfad durch die Geschichte und fordert nebenbei mit allerlei Tricks – einem Spiegelkabinett, Räume mit optischen Täuschungen – das Sicherheitsempfinden der Besucherinnen und Besucher heraus. Denn Sicherheit ist ein Gefühl, jenseits von Fakten und Statistiken. Es hat maßgeblich mit Vertrauen zu tun: in sich, in die anderen, in den Staat oder den lieben Gott.

Angst und Unsicherheit gehören zum Leben dazu. Wir alle haben unterschiedliche Strategien, mit diesen ständigen Begleiterinnen umzugehen – ob mit weltlicher oder transzendenter Hilfe. Die erst rund 100 Jahre alten sozialen Sicherheitsgarantien des Staates können Folgen von individuellen Schicksalen oder Katastrophen lindern, aber nicht von Angst befreien.

Sicherheit an "Leib und Seele" ermöglicht erst unsere Existenz. Selbst wenn sie hergestellt ist, bleibt unser Sicherheitsgefühl eine subjektive Wahrnehmung und kein nur mit Daten belegbarer Zustand. Das hat mit persönlichen Befindlichkeiten, medialer Berichterstattung, mit kollektiven Erwartungshaltungen und mit individuell gemachten Erfahrungen zu tun – insbesondere mit Vertrauen. Vertrauen in ein Kollektiv, zu dem wir uns zugehörig fühlen, Vertrauen in Personen, die wir gewählt – oder sogar nicht gewählt – haben, Vertrauen in Wissenschaftler_innen oder auch nur in den Menschen, der vor mir in der Reihe steht und Abstand halten soll; manchmal auch mit Vertrauen in eine transzendente Macht. Samt und sonders nicht kalkulierbare Risiken ...

Menschen fühlen sich dort am sichersten, wo Vertrauen in eine gerechte Verteilung von Sozialausgaben besteht, wo staatlich gewährte Sicherheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt herrschen. Erreicht wird dies weniger durch kriminalpräventive oder polizeiliche Maßnahmen, denn durch Transparenz und Integrität. Unser Sicherheitsgefühl ist manipulierbar – oder positiv formuliert: veränderbar. Angstmache, Verhetzung, Verschwörungstheorien und Populismus leisten einem Vertrauensbruch und damit einem Verlust von Sicherheit Vorschuss.

Vom riskanten Wunsch nach Sicherheit

Die Ausstellung ist ein Kaleidoskop vieler Geschichten über den Wunsch, das Bedürfnis und Bemühen, Unsicherheiten zu minimieren. Die Geschichten erzählen von der Unerreichbarkeit oder Illusion von Sicherheit, von rechtlichen und transzendenten Konzepten, vom Wert der Sicherheit – und berichten schließlich auch vom Preis derselben, Freiheiten zugunsten von Sicherheiten aufzugeben, durch Überwachung, Bevormundung und die Beschneidung der eigenen Autarkie. Eine Wanderung durch die Geschichte, anhand von Objekten vorwiegend aus der Sammlung des Vorarlberg Museums, mit einigen Leihgaben aus der Sammlung der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege Unterland sowie der Vorarlberger Landes-Versicherung, die im letzten Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feierte. Die Schau lädt ein, neue Fragen an manchmal alt vertraute Exponate zu stellen, sie unter einer anderen Perspektive wahrzunehmen, Gebrauchs- und Kunstobjekte mit den Fragen nach Risiko, Schutz und Sicherheit zu adressieren.

Um sich des eigenen Sicherheitsgefühls bewusst zu werden, bietet die Ausstellung jenseits aller kognitiv erfassbaren Erzählungen Möglichkeiten an, spezielle Erfahrungen zu machen: in interaktiven Zonen, mit spielerischen Vermittlungsangeboten oder in besonderen Räumen. Ein Spiegelkabinett ist mit Fragen bestückt, unter welchen Bedingungen man sich sicher fühlen kann. Es gibt ein "entnormtes" Zimmer, in dem nichts den Erwartungen entspricht – die Türen sind zu klein, Ausgänge muss man erst suchen. Ein weiterer Raum täuscht durch einen optischen Trick vor, über einen schmalen Grat wandeln zu müssen. Die Besucherinnen und Besucher können spielerisch das Prinzip einer Versicherung kennenlernen, eigene Schutzobjekte mit anderen teilen oder interaktiv erfahren, was es bedeutet, beim Lawinenwarndienst zu arbeiten und einen Hang für Schifahrer*innen freizugeben.

Vom Körper zum Staat

Das Spektrum an Themen auf dem Gebiet der Sicherheit ist schier unendlich. Die Ausstellung konzentriert sich auf fünf Themenbereiche und bewegt sich in konzentrischen Kreisen ausgehend vom Körper über den unmittelbaren Lebensraum hin zu Natur, Gesellschaft und Staat sowie Gott bzw. transzendenten Mächten.

Im Bereich "Regulierte Körper" stehen Regeln, Codes und Normen im Fokus, die den Leib für die Gesellschaft konform, schön oder "sicher" machen. Thematisiert werden auch Hygiene- und Gesundheitskonzepte, wie etwa Impfungen oder Unfallverhütung, sowie Disziplinierungs- und Normierungsmaßnahmen.

Der Ausstellungsbereich "Normierte Räume" erzählt von gebauten Schutzhüllen wie dem Wohnraum, Gebietsgrenzen, überwachten öffentlichen Räumen und der Ambivalenz beider Positionen, entweder aus- oder eingesperrt zu sein.

"Unvorhersehbare Natur" beschäftigt sich mit dem widersprüchlichen Verhältnis des Menschen zur Natur: einerseits ein Teil von ihr zu sein und sich vor Naturereignissen schützen zu müssen, andererseits sie zurückzudrängen, auszubeuten oder gar zu zerstören.

Staatliche Ordnungssysteme und Sicherheitseinrichtungen, Konzepte wie das der Versicherung und Vorsorge fokussiert der Bereich "Sichere Zuständigkeiten" ebenso wie frühere und heutige Definitionen von Schutzbedürftigkeit und aktuelle Ängste wie Verlust von Arbeit, Armut und Einsamkeit.

Im Ausstellungsbereich "In-Sicherheit-Wiegen" wird von der Obhut transzendenter Mächte jenseits menschlicher Möglichkeiten erzählt und mit religiösen, spirituellen, esoterischen, sogar psychoaktiven Hilfspaketen an eine wesentliche menschliche Überlebensfähigkeit appelliert: die Hoffnung als positive Antwort auf Angst.

Die Ausstellung Auf eigene Gefahr – Vom riskanten Wunsch nach Sicherheit eröffnet aufgrund der Pandemie ein Jahr später als geplant. Das Corona-Virus konfrontiert die Menschen einmal mehr mit Ängsten, Risiken, dem Gefühl des Kontrollverlustes und dem Wunsch nach Sicherheit. Auch hier ist Vertrauen die Basis des Sicherheitsgefühls. Vertrauen in die Maßnahmen, die Freiheitsbeschränkungen zugunsten von Sicherheit bringen; Vertrauen auf Kooperationen – nicht nur als Überlebensstrategie, sondern auch als Fähigkeit, jenseits gewohnter Mechanismen zusammenzuarbeiten. Das führt zu Höchstleistungen in der Anpassung an Gegebenheiten und in der Entwicklung von Neuerungen – Impfstoffen zum Beispiel. All diese Fähigkeiten liegen vielen der in der Ausstellung gezeigten Aspekten zugrunde. Ein Blick in die Geschichte lohnt …

Zur Ausstellung erscheint im Falter Verlag ein gleichnamiges, 560 Seiten starkes Begleitbuch (herausgegeben von Peter Melichar und Andreas Rudigier) mit Beiträgen unter anderem von Susanne Breuss, Ernst Bruckmüller, Peter Filzmaier, Caspar Hirschi, Margareth Lanzinger, Gabriele Michalitsch, Alois Niederstätter, Robert Pfaller, Meinrad Pichler und Ilse Reiter-Zatloukal.

Auf eigene Gefahr – Vom riskanten Wunsch nach Sicherheit
28. Mai bis Frühjahr 2023