Viennale 2011: Akte des Widerstands

Leidenschaftlich für ein Kino als Kunst und Unterhaltung und gegen die heutige Massenware kämpft ein junger Filmfan in Amir Naderis "Cut". Akte des Widerstands gegen das laute Spektakelkino sind aber auch Ann Huis "Tao Jie – A Simple Life", Benjamin Cantus "Stadt Land Fluss" oder Thomas Heises auf jedes gesprochene Wort verzichtender Dokumentarfilm "Sonnensystem".

Besessen vom Kino ist der Protagonist von Amir Naderis "Cut". Die Wohnung Shujis auf dem Dach eines Tokioter Hochhauses ist voll geklebt mit Filmplakaten und Stills aus Meisterwerken der Filmgeschichte. Auf der Terrasse führt er in einem improvisierten Kino Klassiker der Filmgeschichte vor und mit dem Megaphon rennt er durch die japanische Metropole, brandmarkt das heutige Kommerzkino, warnt vor dem Tod des wahren Kinos, das einst immer Kunst und Unterhaltung war.

In schwarzweißen Traumszenen besucht der junge Filmfan die Gräber der japanischen Meister Kurosawa, Ozu und Mizoguchi, träumt von John Fords "The Searchers" und Robert Bressons "Mouchette" und würde am liebsten selbst nach drei Filmen einen weiteren drehen, um so die Filmkunst am Leben zu erhalten.

Mit ganz anderen Problemen wird Shuji aber konfrontiert, als er einem Gangsterboss die Schulden, die sein ermordeter Bruder gemacht hat, um die Filme zu finanzieren, zurückzahlen soll. Zwölf Tage bleiben ihm Zeit, nur sein Körper kann er einsetzen, um Geld aufzutreiben. So lässt er sich im Hinterzimmer einer Bar Tag für Tag von schlagwütigen Männern gegen Geld verprügeln. Aus der Filmleidenschaft scheint er die Kraft zu beziehen alles durchzustehen, lässt sich am Ende nicht mehr in den Magen schlagen, sondern 100 Schläge ins Gesicht verpassen und memoriert dabei eine Liste von 100 Klassikern der Filmgeschichte.

Wie leidenschaftlich man das Kino lieben kann, wie weit man dafür gehen kann, wurde wohl noch nie so drastisch gezeigt. Doch so entschieden und radikal diese Hommage an die Filmkunst und Filmgeschichte auch ist, so bleibt die Handlung doch etwas dünn, beschränkt sie sich doch weitgehend auf die Prügelszenen und die näher rückende Deadline. Da mutet der Iraner Naderi, der seit den 80er Jahren in den USA arbeitet und diesen Film nun in Japan gedreht hat, dem Zuschauer nicht nur an physischer Gewalt Einiges zu, sondern strapaziert mit 132 Minuten Länge auch dessen Geduld.

Kein Amoklauf für die Filmkunst, sondern ganz einfache und doch zutiefst bewegende Filmkunst ist dagegen Ann Huis "Tao Jie – A Simple Life". Aus der Geschichte um eine Frau, die 60 Jahre lang im Haus einer reichen Familie diente, nach einem Schlaganfall aber selbst zum Pflegefall wird, hätte leicht eine tränendrückende Schnulze werden können. Haarscharf an der Grenze zur Sentimentalität bewegt sich Ann Hui dann auch, doch ihr Film ist von einer Zurückhaltung und einer Menschenliebe, dass tiefste Wahrhaftigkeit aus ihm strahlt.

Hier werden die Problematik der Überalterung einer Gesellschaft und die Zunahme der Pflegefälle nicht breit thematisiert, sondern eher beiläufig ins Bild gerückt, und den entwürdigenden Zuständen in überfüllten Altersheimen stellt die Hongkong-Chinesin Menschlichkeit gegenüber. Denn mit der Krankheit der Dienerin merkt der ansonsten so gestresste Sohn der Familie, dass sein Job Nebensache ist, er nun als Mensch gefordert ist, zumindest teilweise das der Dienerin zu vergelten, was sie für ihn geleistet hat. – Großes Kino der Gefühle ist das, aber nie verlogen, sondern ganz nah am Leben.

Wunderbar zurückhaltend ist auch das Debüt des jungen deutschen Filmemachers Benjamin Cantu. Schon fast eine Provokation ist es, wie lange er sich in "Stadt Land Fluss" darauf beschränkt den Alltag in der 60 Kilometer südlich von Berlin gelegenen Agrargenossenschaft "Die Märker" zu schildern. Man sieht die Jugendlichen, die hier zu Bauern ausgebildet werden sollen, bei Stallarbeiten, bei der Ernte, beim Bewässern der Felder oder bei Besprechungen mit ihrer Vorgesetzten.

Erst langsam entwickelt Cantu aus dem Dokumentarischen heraus eine Geschichte, rückt den aus schwierigen familiären Verhältnissen stammenden Marko und Jakob, der eine Banklehre hingeschmissen hat, in den Mittelpunkt. In kleinen Gesten kommen sie sich näher und unterdrückt Marko zunächst noch seine Gefühle, so finden sie in einem Ausbruch aus der Provinz nach Berlin doch zueinander.

Ganz von der genauen Beobachtung des Alltäglichen, von Blicken und kleinen Gesten und der bestechenden Integration des realen Hintergrunds und der realen Menschen – nur Jakob und Marko werden von Schauspielern verkörpert - in die fiktive Geschichte lebt dieser Film und beglückt durch den Verzicht auf jede Dramatisierung. Vorwerfen könnte man "Stadt Land Fluss" höchstens, dass in der Betonung der Selbstverständlichkeit einer homosexuellen Liebe der Einfluss der produzierenden Salzgeber & Co Medien, die auf schwul-lesbische Themen spezialisiert sind, nicht zu übersehen ist.

Ein Akt des Widerstands gegen schnelle Dokumentationen und kurzatmige TV-Reportagen ist Thomas Heises Dokumentarfilm "Sonnensystem". Ganz auf die Kraft der Bilder vertraut der ostdeutsche Filmemacher und verzichtet auf jedes gesprochene Wort. Auf Aufnahmen vom Sonnenaufgang und von Wolken lässt er statische Totalen einer braunen Gebirgslandschaft folgen, ehe die Kamera in einem grünen Flusstal eine Siedlung entdeckt.

Fast zwei Stunden lang wird Heise in dieser indigenen Gemeinde im Norden Argentiniens den Alltag in ruhiger Abfolge der Bilder und Szenen einfangen. Im Gegensatz zu Nikolaus Geyrhalter, der in "Elsewhere" 20-minütige Miniaturen von indigenen Völkern, die vom Aussterben bedroht sind, zeichnete, fokussiert Heise auf einem Volk und lässt sich viel Zeit. Der Bogen der Szenen spannt sich vom Kastrieren und Schlachten eines Stiers über Schulszenen, das Bearbeiten von Leder und das Schreinern eines Fensters bis zu einer religiösen Feier, bei der sich in den Katholizismus auch Elemente einer Naturreligion mischen.

Im gleichen Sonnensystem und im 21. Jahrhundert spielen sich diese Szenen ab – und doch scheint das, was man hier sieht, eine ganz andere Welt und Lichtjahre entfernt zu sein. Doch immer wieder machen kleine Einsprengsel klar, dass diese Welt doch nicht gänzlich von der Zivilisation abgeschlossen ist, dass auch hier schon Plastikspielzeug, Fernseher, Plastikplanen oder eine Kettensäge Einzug gehalten haben. Gewiss ist damit, dass diese Kultur über kurz oder lang verschwinden wird und überflüssig wirkt folglich bei diesem so bildstarken und ruhigen Film am Ende eine mehrminütige Parallelfahrt der Kamera entlang der Slums einer Großstadt, in die die Dorfbevölkerung abwandert.