Unterhaltsame Tiefgründigkeit

10. Juli 2013 Rosemarie Schmitt
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Ein Grund, wahrscheinlich sogar der Grund, daß seine Werke so selten aufgeführt werden, ist, daß nur wenige Interpreten den Ansprüchen dieses Komponisten gerecht werden. Inzwischen haben die Musiker ein wenig die Scheu verloren, wagen sich hin und wieder an seine Kompositionen, denn Jean Françaix starb im September des Jahres 1997 in Paris.

Er verlangte indes niemals von den Interpreten mehr, als er selbst in der Lage war zu leisten. Und was er in der Lage war zu leisten, war außerordentlich! Sein Klavierstudium am Pariser Conservatoire schloß er mit einem 1. Preis ab – er war 18! Seine Mutter war Sängerin, sein Vater Pianist, Kompositionslehrer und Konservatoriumsleiter, allerdings nicht in Paris, sondern in Le Mans, nicht daß Sie noch denken... Was Sie sich jedoch bedenkenlos denken können ist, daß ihm sowohl Musikalität, als auch die Voraussetzungen für eine erfolgsorientierte musikalische Karriere, von den Eltern in die Wiege gelegt wurde.

Ob zu diesem Zwecke ein besonders großes Modell angeschafft wurde, ist mir nicht bekannt, doch halte ich es für möglich. Seine Professorin für Komposition am Pariser Konservatorium, es war die großartige Nadia Boulanger, schrieb in einem Brief an Jean Françaix‘ Mutter: "Madame, ich weiß nicht, warum wir Zeit damit verlieren sollten, ihn in Harmonielehre zu unterrichten, er kennt die Harmonik. Ich weiß nicht wie, aber er weiß es; er wurde geboren, um es zu wissen." (...)

Außerdem muß er ein sehr neugieriger Bursche gewesen sein, denn Maurice Ravel äußerte sich folgenderweise: "Unter den Gaben dieses Kindes bemerke ich vor allem eine, die die fruchtbarste für einen Künstler ist, die Neugier." Fleißig war er allemal, dieser Monsieur Françaix. Im Laufe seines 85 Jahre währenden Lebens komponierte er viel, sehr viel. Genauer vermag ich es Ihnen leider nicht zu sagen, denn noch existiert kein exaktes und vollständiges Werkverzeichnis. So soll er fünf Kammer-Opern komponiert haben, elf Ballette, elf Orchesterwerke, mehr als zwanzig Konzerte für ein odere mehrere Soloinstrumente, Kammer- und Filmmusiken, Lieder, Orgelwerke und so weiter.

Nun hat die in Berlin geborene Pianistin Corinna Simon eine CD mit Kompositionen von Jean-René Françaix (so sein vollständiger Name) veröffentlicht. Piano Rarities, so heisst die Serie, die CHRYSTAL-Classics (Delta Music) für solche "Fälle" vorgesehen hat.

Die musikalischen Charakterstudien "Cinq portraits des jeunes filles" (Fünf Portraits junger Mädchen) schrieb Françaix als er 24 Jahre jung war. Er "malte" die musikalischen Portraits eines launischen, eines zärtlichen, eines eingebildeten, eines nachdenklichen und eines modernen jungen Mädchens. Mit jenen Studien beginnt Corinna Simon auf dieser CD eine chronologische Reise durch die Kompositionen dieses, oft verkannten Komponisten.

Zu Unrecht wurden seine humorvollen Werke nicht ernst genug genommen, was Simon mit dieser Einspielung beeindruckend unter Beweis stellt (daß es ein Unrecht gewesen ist!). Tiefgründigkeit und Humor schließen einander in keiner Weise aus! Ich gestehe, beim ersten Hören der CD stand der unterhaltsame Eindruck auch bei mir im Vordergrund. Ein genaueres Hinhören jedoch, offenbarte mir sehr schnell die Vielschichtigkeit, die Komplexität und den pianistischen Anspruch dieser Kompositionen.

Besonders angetan haben es mir die "Cinq Bis", jene "Fünf Zugaben", die Jean Françaix seiner Lehrerin Nadia Boulanger widmete, und die den Abschluß für diese CD bilden. Diese Zugaben tragen Titel wie etwa "Für sentimentale Damen", "Für den Fall eines Erfolges", "Für den Fall eines triumphalen Erfolges" oder gar "Wenn das Publikum rast" - was spätestens dann der Fall sein wird, nachdem diese Zugabe gespielt wurde!

Leicht, locker, tänzerisch, augenzwinkernd, elegant und raffiniert komponierte Françaix jene Werke, und ebenso interpretiert sie Corinna Simon. Ich glaube, Jean Françaix würde sie mögen, diese deutsche Pianistin, die den charmanten, klugen und humorvollen Franzosen ganz offensichtlich richtig verstanden hat!

Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt