"Tschick" von Wolfgang Herrndorf

4. Oktober 2013 admin
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Der Klappentext: Mutter in der Entzugsklinik, Vater mit Assistentin auf Geschäftsreise: Maik Klingenberg wird die großen Ferien allein am Pool der elterlichen Villa verbringen. Doch dann kreuzt Tschick auf. Tschick, eigentlich Andrej Tschichatschow, kommt aus einem der Asi-Hochhäuser in Hellersdorf, hat es von der Förderschule irgendwie bis aufs Gymnasium geschafft und wirkt doch nicht gerade wie das Musterbeispiel der Integration. Außerdem hat er einen geklauten Wagen zur Hand. Und damit beginnt eine Reise ohne Karte und Kompass durch die sommerglühende deutsche Provinz, unvergesslich wie die Flussfahrt von Tom Sawyer und Huck Finn.

Aus "Tschick": "Ein klappriges Auto kam die Straße runtergefahren. Es fuhr langsam auf unser Haus zu und bog in die Garagenauffahrt ein. Eine Minute stand der hellblaue Lada Niva mit laufendem Motor vor unserer Garage, dann wurde der Motor abgestellt. Die Fahrertür ging auf, Tschick stieg aus. Er legte beide Ellenbogen aufs Autodach und sah zu, wie ich den Rasen sprengte. "Ah", sagte er, und dann sagte er lange nichts mehr. "Macht das Spaß?""

Meine Gedanken zu dem Buch: Und dabei war es einmal ein Buch (veröffentlicht 2010) das ich gar nicht lesen wollte, weil ich glaubte, diese Geschichte interessiere mich nicht. Zwei pubertierende Jungs klauen ein Auto und erleben Abenteuer? Das ist doch Jungenskram? Ich las Wolfgang Herrndorfs Blog "Arbeit und Struktur", sein digitales Tagebuch, dessen letzter Eintrag lautet: Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.

In jenem Blog las ich, dass er gerne auf dem "Friedhof der Namenlosen" in Berlin beerdigt werden möchte. Als ich die ersten beiden Septemberwochen in Berlin war, suchte und besuchte ich diesen Friedhof, las und hörte viel über den Schriftsteller Herrndorf. Sein Leben und sein Sterben beschäftigte mich sehr, und so kaufte ich mir vor meiner Heimreise "Tschick". Diese Geschichte, von der ich einst glaubte, sie interessiere mich nicht, verschlang ich. Die Geschichte von Maik und seinem Freund Andrej ist alles andere als Jungenskram! Zum Heulen schön.

Herrndorf schafft den unglaublichen Spagat Ernsthaftes in einer ungemein lockeren, doch niemals an Niveau verlierenden Sprache zu formulieren, die sowohl zu den jugendlichen Protagonisten, als auch zum reifen Leser passt. Herrndorf verbietet Maik nicht den Mund, spielt nicht den besserwissenden, korrigierenden Schriftsteller, sondern beweist, welch ein großartiger Stilist, welch ein genialer Schriftsteller er war, ist, immer bleiben wird. Präzise und detailliert beschreibt er Gefühle, Situationen, Landschaften. Vieles, was mir bis dahin fremd war, machte Herrndorf mir mit wenigen Worten vertraut. Ich tauchte ab, tauchte hinein und wieder auf, wunderte mich, lachte und weinte, lebte in dieser Welt mit Maik und Tschick.

Ich bin davon überzeugt, dass "Tschick" ein Klassiker werden wird wie William Goldings "Herr der Fliegen" oder Twains "Huckleberry Finn"! Dieses Buch gehört in alle Bibliotheken, in Schulen, in Seniorenheime, auf Nacht-Küchen- und Wohnzimmertische, in Reise- und Handtaschen, in Büroschubladen, auf Schreibtische, in Jugendzentren...Ich werde "Tschick" immer wieder lesen, werde diesen Roman empfehlen und verschenken.

Am 24.6. 2013 um 20:40 Uhr schrieb Wolfgang Herrndorf in seinem Blog:
"Ich habe eine woher auch immer recht genaue Vorstellung von meiner verbleibenden Zeit, die sich von Zeit zu Zeit ändert."

Ich danke Wolfgang Herrndorf aus tiefem Herzen für die Zeit, die er sich zum Schreiben nahm, um meine, mir noch verbleibende Zeit, zu ändern.

Wolfgang Herrndorf - Tschick
Taschenbuch: 256 Seiten
Verlag: rororo
ISBN-10: 3499256355
ISBN-13: 978-3499256356
EUR 8,99