Tomi Ungerer. Incognito

Tomi Ungerer hat mit seinen Zeichnungen und Gouachen Weltruhm erlangt. Doch ein unbekannter Schatz wird jetzt erst gehoben: die über mehrere Jahrzehnte entstandene umfangreiche Werkgruppe an Collagen und jüngeren Plastiken. Anders als die illustrativen Auftragsarbeiten offenbaren sie sich als freie, eigenmotiviert erstellte Kunsterzeugnisse. Angeeignet hatte sich Ungerer die kreative Technik der Collage bereits in den 1950er-Jahren, noch bevor die Kunstgeschichtsforschung Ende der 1960er-Jahre ein gehäuftes Auftreten von Collagen und Material-Montagen in den unterschiedlichsten Techniken konstatierte. Über die Jahre wurden die Überschneidungen zwischen angewandter und bildender Kunst unübersehbar.

Ausstellungen, die das künstlerisch-unabhängige Werk von zunächst als Illustratoren bekannte Künstler würdigen, haben im Kunsthaus Zürich Tradition. Honoré Daumier (ausgestellt 2008), Henri de Toulouse-Lautrec (1951), Saul Steinberg (2008), Félix Vallotton (1928, 1938, 2007) und Andy Warhol (1978) fanden hier ein Publikum. Tomi Ungerer, nicht allein bildender Künstler, sondern begnadeter Autor und Geschichtenerzähler, reiht sich auch in eine zweite Traditionslinie ein, die Schriftstellern wie Friedrich Dürrenmatt (1992), Alfred Jarry (1985), Marquis de Sade (2002) und Victor Hugo (1987) Ausstellungen widmet.

Alle diese Persönlichkeiten arbeiten transdisziplinär. Und mehr noch: es ist auffällig, dass sie sich entweder stark zum gesellschaftspolitisch scharfzüngigen Kommentar ihrer Zeitgenossenschaft hinwenden oder mit der sehnsuchtserfüllten Kraft der Erotik operieren. Häufig tun sie beides zugleich. Dies trifft insbesondere auf Andy Warhol zu, der zeitgleich wie Tomi Ungerer in New York arbeitete. Beide stellten sich Fragen rund um Narzissmus, Sehnsucht, Erotik und Politik. Ihre bildnerischen Antworten sind kontrastreich-nihilistische Gegenüberstellungen. Wie bei Warhols Bildwelten sind Ungerers Collagen kaleidoskopisch oder als Vexierbilder angelegt. Je nach persönlichem Standpunkt sieht der Betrachter eher die gesellschaftspolitischen oder die erotischen Momente: Ein Kriegsversehrter schreitet durch eine mit schönkurvigen, gigantisch gross in den Himmel ragenden Frauenbeinen übersäte Ruinenlandschaft; ein tätowiertes Schwein legt sich bequem über den Horizont des azurblauen Meeres; eine krampfhaft geballte Faust steht an Stelle des Kopfes eines onanierenden Geschäftsmannes.

Die Collage vermittelt im Prozess der künstlerischen Produktion ein starkes Gefühl der Selbstermächtigung: Ungerer dekonstruiert Bestehendes, re-kombiniert mit technisch geringem Aufwand, aber intellektuell scharfem Assoziationsvermögen einzelne Bestandteile. Eine neue alte Entität erhält unter Umständen eine völlig andere Bedeutung. Seine Schöpfungen erhalten nicht die eine, jede andere Interpretation zurückweisende Botschaft. Vielmehr provozieren sie geradezu eine polysemantische Auslegung: Mehr- statt Eindeutigkeit und Spannung statt Harmonie.

Stilistische Bezüge stärken eine These, wonach Ungerers Haltung vieles mit jener der Situationisten in Paris gemeinsam hat. Die Stadt war zu einem Ort des Abenteuers und zur Inspirationsquelle geworden, die es mit der Methode des absichtslosen Umherschweifens zu erkunden galt. Für den im Elsass geborenen, zwischen der französischen und deutschen Sprache und Kultur hin- und hergerissenen und zeitlebens unruhig zwischen den USA, Kanada, Irland, Frankreich und der Schweiz hin- und herpendelnden Ungerer ist die Aneignung von Versatzstücken zum Lebenselixier geworden. Die Hartnäckigkeit und produktive Verzweiflung, mit der Ungerer seine künstlerische Suche fortsetzt, hat er beispielhaft in seiner Serie «Waiting for Godot» (2009) umgesetzt, als Hommage an den von ihm so bewunderten Schriftsteller Samuel Beckett. Ob seine Bildschöpfungen vom Traum ins Trauma kippen entscheiden die Besucherinnen und Besucher im Kunsthaus Zürich.

Auf eine institutionelle Annäherung an die Kunst hat der "Chamäleonist", als den sich Ungerer selbst bezeichnet, lange gewartet. Heute sichern ihm das Musée de la Ville de Strasbourg und die Sammlung Würth, die zu den Hauptleihgebern dieser Ausstellung gehören, eine dauerhafte Präsenz. In der Zürcher Ausstellung stammt über die Hälfte der rund 160 Collagen, Zeichnungen, Assemblagen und Plastiken aus dem Besitz des Künstlers selbst. Dieses weitgehend unveröffentlichte Material hat Kuratorin Cathérine Hug in enger Abstimmung mit Tomi Ungerer zusammengetragen. Auf polemisierende Darstellungen von Mann und Frau folgen Stadt- und Landschaftsansichten.

Dem Ornamentalen und Seriellen als formale Metapher der Gesellschaftskritik und Disparität wird ein eigener Bereich gewidmet. Skulpturen und Objekte setzen in der Ausstellung überraschende Akzente. Die wohl umfangreichste thematische Gruppe befasst sich mit dem Körper, fragmentiert und verletzlich, als Fetisch und Objekt der Begierde. Dieses Thema zieht sich durch alle Schaffensphasen – von den 1950er-Jahren bis heute. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Werke des Universalkünstlers in konventioneller Hängung gezeigt werden. Die Kuratorin spielt mit der Dialektik in Ungerers Werk, mit seiner kritischen Distanz gegenüber herrschenden Institutionen, wie er diese aufs Korn nimmt und herausfordert.


Das 400 Seiten umfassende, dreisprachige (d/e/f) Katalogbuch ist eine Produktion des Diogenes Verlags. Es enthält die in der Ausstellung gezeigten Werke sowie neue Beiträge von Tobia Bezzola, Tobias Burg, Cathérine Hug, Philipp Keel und Thérèse Willer und ist für CHF 59.-/EUR 49.- im Museumsshop und im Buchhandel erhältlich. Die hochwertig ausgestattete, nummerierte und signierte Vorzugsausgabe mit exklusivem Siebdruck kostet ca. CHF 500.-/EUR 500.-.

Tomi Ungerer. Incognito
30. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016