Susanne Krell – attigit.projekt

Susanne Krells künstlerische Arbeit ähnelt einer Reise als Spurensammlerin durch die Welt. Im Mittelpunkt steht die Authentizität, die individuelle Spur eines Ortes, einem Fingerabdruck gleich. Seit Jahren sammelt sie die Oberflächen von Gebäuden, Räumen, Plätzen, von Orten, die eine inhaltliche Bedeutung haben. Häufig entstehen dabei Frottagen. Die Oberfläche ist Bild für die darunter liegende inhaltliche Komponente. Krell interessiert sich für die Frage, was darunter liegt an Gedanken, Vorstellungen, Bildern, Systemen, Geschichten, Inhalten und Konzepten.

Das "attigit.projekt" von Susanne Krell besteht aus Frottagen von den heiligen Orten der drei abrahamitischen Religionen, Christentum, Islam, Judentum. Eine Frottage ist der Abrieb einer Fläche, den man gewinnt, indem man einen Papierbogen auf einen ausgewählten Stein, ein Mauerstück, auflegt und mit Kreide die darunter liegenden Oberflächenstrukturen auf das Blatt überträgt. Susanne Krell hat im Zeitraum von rund drei Jahren die Zentren der drei abrahamitischen Religionen – Rom, Kairo, Jerusalem – aufgesucht und Frottagen von den Mauern dieser Gebäude hergestellt: eine distanzlose und enge Berührung, im Gegensatz etwa zu Foto oder Zeichnung. Zunächst hat sie eine Frottage von der Außenwand des Petersdoms genommen. Anschließend reiste die Künstlerin mit diesem Abrieb nach Kairo und heftete das Blatt an die Al Azhar Moschee. Anschließend fertigte sie einen Abrieb von der Al Azhar Moschee und brachte diesen in einem weiteren Schritt nach Jerusalem. Dort heftete Susanne Krell den Abrieb der Al Azhar Moschee an die Klagemauer. Danach wurde ein Abrieb der Klagemauer genommen und in einem letzten Schritt wiederum nach Rom gebracht und an den Petersdom angeheftet. Damit schließt sich ein Kreis.

Der Projekttitel "attigit" bedeutet auf Lateinisch "hat berührt" oder "hat angerührt" und nimmt Bezug auf die Technik der Frottage. Wichtig ist, dass die Aktionen der Künstlerin an den jeweiligen heiligen Orten durch Vertreter der zu diesen Orten gehörenden Religionen unterstützt und autorisiert wurden. Hier hat ein authentischer interkultureller und interreligiöser Dialog stattgefunden. Bei ihrer "Spurensuche" betreibt die Künstlerin eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort auf friedliche Weise. Der Stein, die Mauer, wird nicht beschädigt und bleibt im übertragenen Sinne unverletzt. Das Frottagieren stellt dabei eine ganz spezifische Form der Dokumentation historischer Monumente dar. Indem die Künstlerin die Frottage eines heiligen Ortes an den heiligen Ort einer anderen Religion anheftet, überwindet sie die räumliche Distanz und verbindet, symbolisch gesprochen, die religiösen Ideengebäude. Eine neue Dimension entsteht. In ihrem philosophisch fundierten Arbeitsansatz entwickelt Susanne Krell einen essentiellen Dialog der Kulturen und Religionen. Die Frottagen der drei "Ideengebäude" stehen gleichwertig nebeneinander und weisen auf die Gleichwertigkeit der Religionen hin. Es gibt keine Herrschaftsstruktur. Durch die Verdichtung von Grafitspuren auf Papier entsteht eine bildkünstlerische Parabel von Bedeutung und Tiefe: Es ist eine Zusammenführung verschiedener historischer Zeitebenen und religiöser Entwürfe.

Das "attigit.projekt" trifft Kernfragen unserer Zeit, ist vorgelebte Toleranz und stellt mit künstlerischen Mitteln eine beeindruckende Form des interkulturellen und interreligiösen Dialogs dar. Inspiriert von der Kraft wichtiger Stellvertreterbauwerke der drei monotheistischen Religionen folgt die Künstlerin einer Vision, die - begünstigt durch zahlreiche Unterstützer, Diskussionspartner und Helfer vor Ort - sich in einem jahrelangen Prozess materialisiert. Susanne Krell gelingt mit künstlerischen Mitteln ein durch hautnahe Erfahrungen geformter Dialog zwischen Schönheit, sinnlicher Erfahrbarkeit und religiöser Authentizität.

Susanne Krell ist 1955 in Betzdorf/Sieg geboren, sie lebt in Windhagen im Siebengebirge. Ihre künstlerische Ausbildung erhielt sie 1972-76 durch ein Studium an der Fachhochschule Koblenz und 1989-90 durch ein Studium der Kunsttheorie an der Universität Tübingen.

Susanne Krell – attigit.projekt
5. Mai bis 15. Juli 2012